Die Schwestern Pearl und May aus Shanghai werden an den alten Herrn Louie
verkauft, weil ihr Vater das gesamte Vermögen verspielt hat. Erzählt wird die
Geschichte aus der Perspektive der älteren Schwester Pearl, die 1916 in einer
stürmischen Nacht geboren wurde und der das chinesische Horoskop ein
stürmisches Schicksal unter dem Sternzeichen Drache voraussagte. Vor dem
historischen Hintergrund der Bombardierung Shanghais während des
chinesisch-japanischen Krieges geraten die beiden 1937 per Schiff aus China auf
abenteuerlichen Wegen nach Angel Island, dem Aufnahmelager für Immigranten in
Los Angeles. Herr Louie gebietet in LA über ein Imperium aus Rikschafahrern,
Restaurants und Geschäften; die Schwestern sind schon in China in einer sehr
einfach gehaltenen Zermonie mit seinen beiden Söhnen verheiratet worden.
Allmählich begreifen die beiden jungen Frauen, warum in der Familie Louie
einige Frauen mit sehr viel jüngeren, kindlich wirkenden Männern verheiratet
sind und warum auch das Alter ihrer Schwiegermutter so gar nicht zu dem ihres
Mannes zu passen scheint. Fast jeder hier in China Town ist ein Papier-Kind,
lebt also mit den Papieren einer ganz anderen Person in den USA. Es wird sich
zeigen, dass die amerikanische Einwanderungsbehörde schon jahrzentelang daran
arbeitet, diese Strukturen der illegalen Einwanderung zu zerschlagen. Die beiden
Schwestern sind sich durch gemeinsame traumatische Erlebnisse innig verbunden.
Der Neid der Älteren - die "Rote-Augen-Krankheit" - auf die
Jüngere, die außerhalb des Hauses berufstätig sein kann, wird nur
zurückhaltend angedeutet, die Konflikte zwischen den Schwestern dürfen nicht
ausgetragen werden. Die Großfamilie Louie wird fest vom Patriarchen geführt,
jeder Cent wird gespart und so bald wie möglich in Landkäufe in China
investiert. Die junge Generation, auch die Männer, hat kein eigenes Geld zur
Verfügung. Daraus resultiert eine totale Abhängikeit vom alten Louie - wenn er
einen geschäftlichen Fehler machen würde, wäre damit die Lebensgrundlage des
gesamten Clans in den USA zerstört. Frischer Wind bläst in diese eingefahrenen
hierarchischen Strukturen, als in der Familie die bereits in Amerika geborene
Tochter Joy heranwächst, die alles Chinesische mehr als peinlich empfindet und
die offene Konfrontation mit den Eltern sucht.
Fazit
Lisa See hat mit
Auf dem Goldenen Berg und
Der Seidenfächer zwei erstklassig recherchierte historische Romane
verfasst. Durch den identischen historischen Hintergrund ähnelt "Töchter
aus Shanghai" ihrem Roman "Auf dem Goldenen Berg". Auch Sees
zweiter Roman aus der Welt chinesischer Einwanderer in Los Angeles ist
ausgezeichnet recherchiert; die traditionellen Familienhierarchien werden
authentisch und mit viel Einfühlungsvermögen in die handelnden Personen
geschildert. Vieles, was auf Leser aus dem Westen im Verhalten von Chinesen
rätselhaft wirken mag, lässt sich aus der konfuzianischen Traditon des
Gehorsams innerhalb eines Familien-Clans erklären. Der Roman wird
harmoniebedürftige Leser deprimieren; denn er enthält einige drastische Szenen
und lässt den beiden Frauen kaum Entwicklungsmöglichkeiten.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 20. November 2010 2010-11-20 12:33:34