Auf der Rückfahrt von der Disco war Julian am Steuer eingeschlafen und baute
einen Unfall, den sein jüngerer Bruder Benjamin nicht überlebte. Seitdem
herrscht in der Familie Trojan eisiges Schweigen. Julian ist inwischen 24 Jahre
alt und aus Neuruppin nach Berlin gezogen. Als seine Mutter ihrem Ältesten
verkündet, die Familie habe sich beim Jugendamt um ein Pflegekind beworben,
verschlägt die Mitteilung Julian die Sprache. Was seine Eltern ihm da kurze
Zeit später vorstellen, ist kein Kind, sondern ein Westentaschenpunk, findet
Julian. Anoki hat mit seinen Eltern bisher in besetzten Häusern gelebt, so
lange bis die Eltern ihn eines Tages an einer Autobahnraststätte stehen ließen
und einfach verschwanden. Julian steht die Pubertät höchstpersönlich
gegenüber mit Dreadlocks, Nietenhalsband und "subversiven
Zubehörteilen", erprobt darin, andere zu provozieren. Schlimmer, der
Pflegebruder ist 14, genau so alt wie Benjamin bei seinem Tod. Anoki wird in
Neuruppin kein Bein an die Erde bekommen, fürchtet Julian, vielleicht werden
seine Kinder hier mal anerkannt. Er hasst diesen plötzlichen Familienzuwachs
vom ersten Tag an und badet im Selbstmitleid. Doch Anoki hat eine sehr
persönliche Sicht auf Benjamins Tod, die Julian gut tut, er ist einfühlsam,
witzig und nicht so schnell zu beleidigen. Seine neuen Pflegeeltern ignoriert
Anoki völlig, der Junge hat nur Augen für seinen großen Bruder - doch Julian
lebt und arbeitet in Berlin. Bald ist nicht zu übersehen, dass Anoki säuft,
kifft und regelmäßig große Geldbeträge ausgibt, die sein Taschengeld weit
übersteigen. Die gutmütige Familie Trojan ist mit einem Jugendlichen völlig
überfordert, der nie regelmäßig zur Schule ging, keine Regeln akzeptiert und
die Gefühle anderer souverän ignoriert, wenn es ihm nützt. Allein Julian hat
einen minimalen Einfluss auf seinen Pflegebruder, der inzwischen bei jeder
Gelegenheit in Berlin auftaucht und sich in Julians Leben einnistet. Aus Julians
anfänglicher Abneigung wird innige Zuneigung, die Anoki in der Rolle des armen
Heimkindes schamlos ausnutzt. Wer so bewundert wird wie Julian, ist blind
dafür wie geschickt er manipuliert wird.
Warum hängt Julian sich in diese Sache so rein, fragt man sich, allein seine
Eltern sind doch erziehungsberechtigt für den Pflegesohn. Julian findet Anoki
nicht nur niedlich, er muss sich schockiert eingestehen, dass Anoki ihn sexuell
erregt. Sex mit einem Vierzehnjährigen ist für Julian ein absolutes Tabu,
außerdem hat er bisher stets Beziehungen zu Frauen gehabt. Eine heikle
Situation zwischen den Brüdern, die Anoki mit Straftaten, Schulproblemen und
seinem kriminellen Lebenswandel auf die Spitze treibt. Als die Probleme mit
Anoki schon völlig aus dem Ruder gelaufen sind, zieht Julians Mutter endlich
die Notbremse, allerdings ganz anders als die drei Männer erwartet haben.
Julian hat sich Hals über Kopf in die allein erziehende Mutter Judith verliebt
und muss endlich mal Nägel mit Köpfen machen. Ein Gespräch mit dem Jugendamt
und Anokis Lehrern steht an. Entweder akzeptiert Anoki Judith - oder er muss
wieder ins Heim zurück.
Die ungewöhnliche Ausgangssituation der Geschichte, dass Geschwister, die nicht
miteinander verwandt sind, auf sich allein gestellt sein können und sich in
dieser Situation einer in den anderen verliebt, beschreibt T. A. Wegberg sehr
glaubwürdig. Knapp vierhundert Seiten Dialoge, mitten aus dem Leben
Pubertierender gegriffen, werden in Herzbesetzer leider nicht konsequent durch
Handlung getragen. Dass der anhängliche Kindergartenpunk mit dem Appetit eines
Pubertierenden Julian finanziell ruinieren wird, war nach wenigen Seiten klar
und wurde für meinen Geschmack zu breit ausgewalzt. Schon am Anfang fragt man
sich, welcher sozialpädagogische Berufsanfänger einen so schwierigen
Jugendlichen an eine unvorbereitete, pädagogisch nicht vorgebildete Familie
vermittelt, die zu allem Überfluss noch ein Kind im gleichen Alter betrauert.
In der weiteren Handlung fällt es schwer, zu glauben, dass es im Großraum
Berlin keine Unterstützung für die Pflegeeltern geben soll. Julians Eltern
huschen farblos und kommunikationsunfähig durchs Bild, auch die
bodenständige, liebevolle Judith darf leider nur eine Nebenrolle spielen.
Durch die sehr zurückhaltend gezeichneten Nebenfiguren steht die symbiotische
Beziehung der Brüder dominant im Mittelpunkt.
Fazit
T. A. Wegberg hat in
Memory
Error gezeigt, dass er gnadenlos komische Dialoge verfassen kann. In
Herzbesetzer trifft er den Ton seiner jugendlichen Helden wieder auf den Punkt.
Mit Julian und Anoki erlebt man als Leser ein Wechselbad der Gefühle und
wünscht sich so manches Mal, Julian würde seinen Plagegeist ein paar Tage in
Jugendarrest verbringen lassen, anstatt ihm jedes Mal wieder eloquent aus der
Patsche zu helfen. Begeistert hat mich der lässig-süffisante Ton, mit dem
Wegberg erzählt und wie taktvoll er den erotischen Anteil der Beziehung
zwischen Julian und Anoki beschreibt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 20. Oktober 2010 2010-10-20 18:11:32