Familiengeheimnisse
Für jeden Menschen kommt der Moment des Abschieds von den Altvordereren. Bei
Maja Sternberg, der Protagonisten des zweiten Romans von Anja Jonuleit, ist
dieser Abschied von vielerlei Seiten her besonders belastet, als Ihre Mutter tot
aufgefunden wird.
Ein Jahrzehnt ohne Kontakt durch ein Zerwürfnis, vor allem aber durch die
verletzende, lebenslang distanzierte Haltung der Mutter Maja gegenüber, steht
im Raum. Und gerade nun, als Maja auf dringende Bitte ihrer Mutter zu einem
Besuch nach Wien reist, ohne zu wissen, was denn Dringendes wirklich zu
besprechen wäre, ist die Mutter tot. Offiziell wird der Sterbefall als
Selbstmord behandelt.
Erschüttert und ungläubig beginnt Maja, den Nachlass der Mutter zu ordnen und
stößt auf einige massive Ungereimtheiten auch im Blick auf ihre eigene
Biographie. In ihrer Geburtsurkunde ist kein Vater eingetragen, dabei ging sie
doch bisher fest davon aus, dass ihr Vater im Krieg gefallen war. Ein Bild ihrer
Großmutter setzt ein weiteres Puzzlestück in das verflochtene
Familiengeheimnis, es zeigt ihre Großmutter mit einem Kleinkind, welches aber
der verstorbenen Lilli in keiner Form ähnelt. Ratlos steht Maja vor den
merkwürdigen, nur ein kleiner Faden liegt vor Ihren Augen, anhand dessen sie
versuchen kann, ihre Familiengeschichte nach zu vollziehen. Auf der Rückseite
des Fotos hat Ihre Großmutter handschriftlich den Ort Hohehorst vermerkt. Maja
beginnt, nach Spuren ihrer Vergangenheit und der ihrer Familie zu suchen.
Schon bald stellt sich heraus, dass Hohehorst zu Zeiten des dritten reichen eine
sogenannte "Lebensborn" Einrichtung war, ein Heim für die
"Aufzucht" arischer Kinder, zu deren Zeugung sich arische Mütter zur
Verfügung stellten. Damals geleitet von Heinrich Sartorius, der eines Tages
spurlos verschwand, Dort trifft Maja auf dessen Sohn Roman Sartorius, zu dem sie
sich auf merkwürdige Weise hingezogen fühlt. Schritt für Schritt
entschlüsselt sie das Drama der Geschichte ihrer Großmutter und ihres
leiblichen Großvaters, versteht mehr und mehr die kühle Haltung und Art ihrer
Mutter und gerät in Gefahr, je weiter sie bei der Aufarbeitung des Lebensborns
Hohehorst und seiner damals und heute verbundenen Personen vordringt.
Stilistisch erzählt Anja Jonuleit ihre Geschichte auf zwei Ebenen, zum einen in
direkter und flüssiger Sprache in der Begleitung Majas, zum anderen als
Manuskript der Erinnerungen der Großmutter. So gelingt es hier, den Leser
einerseits in die Entwicklungen der Gegenwart mit hinein zu ziehen und
andererseits Stück für Stück die Hintergründe dieser Entwicklung und der
vorliegenden Geheimnisse zu lüften. Innere und äußere Überraschungen und
Entwicklungen, vor allem das sich ändernde innere Verhältnis Majas zur Mutter
Lilli versteht Anja Jonuleit, miterlebend zu gestalten und vermittels ihres
bildreichen und flüssigen Schreibstils den Leser jederzeit mitten im Geschehen
zu halten.
Fazit
Ein Roman zum fast vergessenen und oft nur am Rande erwähnten Thema des
"Lebensborns", voller überraschender Wendungen einer zunächst
geheimnisvollen Lebensgeschichte, mit nachvollziehbar und lebensecht gestalteter
Figuren und einer feinfühlig beschriebenen inneren Entwicklung derselben.
Leichten Schwächen am Ende (der Kriminalanteil fällt gegenüber der
eigentlichen Geschichte inhaltlich ein wenig ab) sind angesichts der
überzeugenden Geschichte und des eingängigen Sprachstils durchaus verzeihbar.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 24. September 2010 2010-09-24 16:49:55