"Der weiße Dampfer" ist ein sehr eindrucksvolles Werk des bekannten
kirgisischen Autors. Es behandelt das tragische Schicksal eines siebenjährigen
namenlosen Jungen in seinem Heimat-Aul in den kirgisischen Bergen. Die einzige
Figur, die den elternlosen Jungen liebt, ist das älteste Mitglied der
Pflegefamilie, Momun. Doch der Förster Oroskul, sein Schwiegersohn und dessen
Frau schikanieren die beiden Personen. So flüchtet sich der Junge in die Mythen
einer längst vergangenen kirgisischen Märchenwelt. Er glaubt an die
"Gehörnte Hirschmutter", die die kirgisischen Stämme beschützte und
vor der Ausrottung bewahrte. Doch der tyrannische Oroskul, materialistisch
eingestellt, glaubt nicht an die Legende und als vor der Försterei plötzlich
Marale auftauchen, zwingt der herzlose Förster seinen Schwiegervater, die
Maralkuh zu erschießen. Der Schwiegervater, der, um die Eintracht der Familie
zu retten und um jedem Konflikt aus dem Wege zu gehen, dem Befehl des Försters
gehorcht, betrinkt sich beim Festmahl. Er war zu alt und zu schwach zum
Widerstand gegen diese sinnlose Tat. Aus Abscheu und Ekel darüber nimmt sich
der Junge das Leben. Er meint damit, seinen eigenen Wunschtraum zu erfüllen:
sich in einen Fisch zu verwandeln, durch den Fluß zu schwimmen um seinen Vater
zu finden. Dieser ist Matrose auf einem weißen Dampfer, den er finden möchte,
um ihn sein Elend zu berichten.
"Der Junge ging. Stieg zum Fluß hinab. Und trat ins Wasser, rannte durch
die Untiefe, hastig, glitt aus und fiel hin. Er zitterte unter den eisigen
Wasserspritzern, und als er die Stromschnelle erreicht hatte, riß ihm die
Strömung den Boden unter den Füßen weg. Er zappelte im wilden Wasser,
versuchte zu schwimmen, schluckte Wasser und erstarrte...Du bist weggeschwommen,
mein Junge, in dein Märchen. Hast du gewußt, daß du dich nicht in einen Fisch
verwandeln, nicht zum Issyk-Kul schwimmen, nicht den weißen Dampfer sehen und
nicht sagen würdest: "Guten Tag, weißer Dampfer, ich bin's." Du bist
weggeschwommen. Ich kann jetzt nur eines sagen - du hast verworfen, womit sich
dein kindliches Herz nicht abfinden konnte. Und das ist mein Trost. Du hast wie
ein Blitz gelebt, der einmal kurz aufgeflammt und dann verloschen ist. Aber die
Blitze werden vom Himmel gezündet. Und der Himmel ist ewig. Auch das ist mein
Trost. Genauso tröstet mich, daß das kindliche Gewissen im Menschen ist, wie
der Keim im Samenkorn - ohne Keim geht der Samen nicht auf. Was immer uns auf
der Welt erwarten mag, die Wahrheit wird ewig bleiben, solange Menschen geboren
werden und sterben...Zum Abschied wiederhole ich deine Worte, Junge: "Guten
Tag, weißer Dampfer, ich bin's.""
Dieser hier von mir bewußt ausführlich zitierte Schluß der Erzählung zeigt,
wie vieldeutig und mehrdimensional diese wunderbare Novelle Aitmatows ist. Es
handelt sich nicht nur um die Konfrontation zwischen Tradition und Moderne, um
den Gegensatz zwischen Gut und Böse. Es zeigt die Folgen von Hartherzigkeit und
Schuld. Diese Schuld führt zu Verwicklungen, die nie rückgängig zu machen
sind, immer Narben hinterlassen. Der Junge lehnt sich kompromisslos gegen
Unterdrückung auf, die er nicht ertragen kann - und wählt so den einzig für
ihn möglichen Weg, seinem Elend zu entgehen. Jeder andere Schluß wäre meines
Erachtens unbefriedigend, da oberflächlich mit einem zwanghaften "Happy
end" versehen gewesen. Nein, es gibt hier kein "Happy end" - und
dies macht die Botschaft der Erzählung, so zu leben, dass sein eigenes Leben im
Einklang mit der Natur steht und immer das eigene Handeln die Würde des
Andersdenkenden beachten sollte, um so glaubwürdiger.
Fazit
Ein eindrucksvolles Buch, meines Erachtens Aitmatows bestes Werk überhaupt.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. August 2003 2003-08-05 19:58:58