Zerfasernde Schnelllebigkeit
Seit Jahr und Tag tauchen Berichte über Folgen, Chancen und Gefahren des
Internets und des Lebens in einer hoch vernetzten Welt in aller Regelmäßigkeit
auf. Bei allem Tiefgang einer ganzen Reihe der Betrachtungen bleiben all diese
Reportagen, Betrachtungen und wissenschaftlichen Untersuchungen vor allem eines,
nämlich eher abstrakt und theoretisch.
Alex Rühle, Redakteur der SZ, ist den anderen, folgt man dem Buch, ungleich
härteren Weg gegangen. Aus persönlichen Gründen hat er für ein halbes Jahr
auf den Zugang zum Internet und die Nutzung seines treuesten Begleiters, des
Smartphones, verzichtet.
Er, der Feiern, Feste, durchaus auch in Urlauben zum Leidwesen seiner Familie
wie ein Junkie des Öfteren heimlich auf Toiletten verschwand, um seinen
Blackberry zu prüfen, der weite Fußwege an entlegenen Urlaubsorten auf sich
nahm, um das nächste Internetcafe (natürlich heimlich) anzusteuern, hat sich
freiwillig ins Off gestellt.
Selten wurde, sprachlich hoch versiert und in durchaus persönlicher,
erzählerischer Form, aus der Praxis heraus ein solch differenziertes Bild auf
den Umgang mit vernetzten Medien geworfen. Wie ein zusammenfassendes Bild steht
die Geschilderte Begegnung mit einer Ente hierfür im Raum. Jene Ente, die sich
mit dem Fuß in einem Draht verfangen hatte, vom Autor befreit wurde und mit
eher beleidigtem Gesichtsausdruck von dannen flog.
In gleicher Form hat der Autor seinen Fuß für sechs Monate zwar aus der
Schlinge gezogen, aber sich nicht freudig befreit erlebt, sondern wie
abgeschnitten vom "eigentlichen Leben" seiner Kollegen und Freunde,
das hochgradig per Email sich niederschlägt.
In seiner Begegnung mit einem Häftling, der tatsächlich intensive
Entzugserscheinungen nach Abgabe seines Blackberrys eindrücklich schildert,
wird dem Leser mehr und mehr die tiefgreifende Veränderung auch der eigenen
Person und des inneren Erlebens durch Internet und ständiger, mobiler
Vernetzung der heutigen Zeit bewusst. Der Soziologe Rosa verweist im Interview
auf die unermesslich angewachsene Termindichte, befördert durch ständige
Erreichbarkeit und Vernetzung und sieht sich einer allgemeinen
"Temporalinsolvenz" gegenüber.
All dies lässt eine Veränderung und innere Unruhe folgen, die Rühle bestens
in Worte zu fassen versteht und die durch seinen unaufdringlichen Humor und
seine feine Ironie auch sich selbst gegenüber ohne moralischen Zeigefinger vom
Leser gut angenommen werden kann.
Rühe selbst bringt diesen inneren Unruhezustand und die weitreichenden Folgen
für eine konzentrierte Kommunikation in der Eigenbetrachtung immer wieder von
anderer Seite her auf den Punkt. Sei es die humorvolle Schilderung der Suche
nach Telefonzellen (vor weniger Telefonbüchern), sei es der Hinweis, dass
Briefe doch noch geschrieben werden können, wenn man sie einfach als Email
verfasst und dann ausdruckt und per Post verschickt. So nimmt er den Leser in
bester Weise mit auf seine Reise in die analoge Welt mit all den Schwierigkeiten
innerer und äußerer Art des "abgeschaltet" seins. So werden auch die
Chancen und hilfreichen Möglichkeiten des Netzes in den rechten Blick gerückt,
wenn man Grenzen für die eigene Person noch zu ziehen vermag.
Das mitschwingende Stichwort bei der Betrachtung der digitalen Welt ist das der
Zerfaserung.
Arbeiten und Leben im "Schnipselmodus", im ständigen Hineinspringen,
überfliegen und weiterspringen. Ein Schnipselmodus, der auch vor dem eigenen
Denken nicht halt macht.
Fazit
Letztlich, bei allem Humor und allem Schmunzeln beim Lesen, ernüchternd, wie
klar Alex Rühle es vermag, die suchtartigen Folgen der modernen Vernetzung
ungeschminkt zu erleben, zu beschreiben und vor Augen zu stellen. Daher nicht
nur ein wunderbar zu lesendes Buch, sondern auch eines, das wichtige Impulse und
ernüchternde Erkenntnisse in den Raum zu stellen vermag, ohne eine handliche
Lösung anzubieten, da ist der Leser selbst gefordert.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 12. September 2010 2010-09-12 15:50:16