Milana und Polly sind untergetaucht und leben in einem leerstehenden Haus. Die
beiden haben keine Heizung, keinen Strom. Wenn sie das Haus verlassen,
durchqueren sie ein postapokalyptisches Brachland mitten in einer Großstadt.
Milana verdient den Lebensunterhalt für Polly und sich an einem Arbeitsplatz,
an dem niemand dich fragt, wer du bist und woher du kommst. Polly wird auf einem
Fahndungplakat gesucht. Sie soll den gemeinsamen Unterschlupf tagsüber
möglichst nicht verlassen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vor
dieser Stadt gab es eine andere Stadt und davor gab es das Haus von Tove, das
Polly und Milana für seinen Besitzer hüteten. Immer wenn Milana glaubt, dass
jemand Polly erkennen könnte, brechen die beiden sofort in die nächste Stadt
auf. "Und wenn wenn man alle Kräfte dafür verbraucht, Menschen nicht auf
sich aufmerksam zu machen, durch ihre Wahrnehmung hindurchzugleiten wie Luft
durch ein Gazefenster, beginnt man eines Tages, an der eigenen Existenz zu
zweifeln." Dass nach Polly gefahndet wird, ist nur eines von Milanas
Problemen. Irgendetwas Gravierendes scheint mit Polly nicht zu stimmen; denn
andere Menschen starren sie an, reagieren völlig verstört auf sie. Spätestens
an diesem Punkt war ich der Geschichte verfallen. Möglichst noch in dieser
Minute wollte ich wissen, was mit Polly los ist. Doch um Antje Wagners
Sprachbilder in allen Feinheiten auszukosten und kein Detail zu verpassen,
musste ich besonders achtsam lesen. Eines dieser außergewöhnlichen Bilder
zeigt Milana, wie sie sich Gedanken über das einsame, rostende, bleischwere
Leben eines alten Schiffsankers macht.
Kurz, lang, lang und wieder zurück an den Anfang der Geschichte. In drei
Schritten führt Antje Wagner ihre Leser in Milanas Verangenheit. Über ein
Jahr sind die beiden Frauen nun auf der Flucht, vor fünf Jahren hatten sie auf
Toves Haus aufgepasst und vor einem Jahrzehnt war Milana noch ein
unbezähmbares Kind, das erst lernen musste, sich zu wehren. Liegt in Milanas
Kindheit der Schlüssel zu den rätselhaften Vorgängen der Gegenwart?
Fazit
Eine Geschichte ist gut, wenn ihr Autor nichts mehr weglassen kann.
Schattengesicht ist eine auf das Notwendige reduzierte, sprachlich herausragende
Geschichte. Das Buch ist kein Kriminalroman, der seine Leser einem Ermittler bei
der Arbeit über die Schulter sehen lässt. Schon sehr zeitig deuten Hinweise
auf eine Lösung hin. Dennoch hatte ich am Schluß das Gefühl, etwas Wichtiges
übersehen zu haben und das Buch noch einmal ganz bedächtig von vorn lesen zu
müssen. Eine Geschichte ist außergewöhnlich, wenn sie noch lange nachklingt,
nachdem der Leser das Buch geschlossen hat - wie die von Milana und Polly.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 10. September 2010 2010-09-10 11:50:05