Stephan Serin sah seinem ersten Arbeitstag als Referendar optimistisch entgegen.
Ziemlich sicher wäre er der einzige Referendar an der Schule mit einem soliden
Wissen über Hip-Hop - seine Schüler würden ihn vergöttern. Auf den
Praxisschock muss der Lehrer für Französisch und Geschichte nicht lange
warten. "Erwarten Sie nicht, dass ich mich um Sie kümmere," wird er
im Lehrerzimmer von seiner Betreuerin im Fach Geschichte begrüßt -
"Referendare sitzen immer am Kopierer". Der natürliche Feind eines
Referendars ist demnach nicht der Schüler, sondern der bereits verbeamtete
Lehrer. Serins Seminarleiter war offensichtlich schon seit der Zeit der
Feuerzangenbowle nicht mehr in einer Schule und ist dem Berufsnachwuchs bei
Disziplinproblemen mit schlagfertigen Schülern keine Hilfe.
Serin, der selbst noch zu DDR-Zeiten zur Schule ging, hatte bislang immer in
ganzen Sätzen gesprochen. Von den Schülern eines Gymnsaiums in Berlin-Mitte
darf er das nicht erwarten. Damit seine Schüler ihn verstehen, muss er in
kurzen einfachen Sätzen mit ihnen sprechen. Einen Satz wie "Könn wir
heute Film kucken?" würde man als unbedarfter Nicht-Berliner eher von
Erkan und Stefan erwarten als von einem Schüler einer 8. Klasse. In einer von
Serins 9. Klassen waren 80% Migrationshintergründler, die miteinander
unverkrampft ausländerfeindlich umgingen. "Der Pole war es!". Serin
ist zunehnemend beunruhigt, warum seine Kollegen, die alle schon vor der Wende
an dieser Schule waren, die Sprachlosigkeit ihrer Schüler ungerührt hinnehmen.
Der neue Referendar geht allmählich auf die 30 zu und entwickelt
Existenzängste, ob er seine Prüfung schaffen und ob er je eine Stelle bekommen
wird. In Serins Alpträumen werden Lehrer wieder zu Schülern und auch in
Gesprächen mit dem Hauptseminarleiter fühlt er sich eher wie ein Schüler. Der
Berufsnachwuchs ist als Hospitant bei seinen erfahrenen Kollegen alles andere
als willkommen.
"Aus den Niederungen deutscher Klassenzimmer" berichtet der Autor mit
bitterem Sarkasmus. Für den, der sich mit der Situation an deutschen
Hauptschulen beschäftigt hat, wirken die Szenen aus Mittel- und Oberstufe
eines Gymnasiums nur makaber. Jugendliche, die weder ihre Mutttersprache noch
Deutsch in ganzen Sätzen sprechen, kann man sich kaum im Englisch- oder
Französisch-Unterricht vorstellen. Das Zeugnis, das ihre Versetzung in die 10.
Klasse dokumentiert, wird vermutlich reinen Erinnerungswert haben und kaum einem
Schüler zu einem Ausbildungsplatz verhelfen.
Nachdem ich kurz zuvor
Deutschland schafft sich ab und
Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld gelesen hatte, war für mich
die Schlüsselszene des Buches das Elterngespräch mit der Mutter eines
arabisch-stämmigen Schülers. Der Sohn übersetzte für seine Mutter ins
Arabische und verdrehte natürlich die Konflikte, über die sein Lehrer zu
klagen hatte, zu seinen Gunsten. Braver Schüler - guter Sohn, alles bestens,
Schuld sind immer andere.
Fazit
Serin lässt in seiner bitteren Satire Pisa-Verlierer, die viele sonst nur aus
Statistiken kennen, live auftreten. Das Lachen über die
Lehrer-Schüler-Dialoge wird manchem im Hals stecken bleiben.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 08. September 2010 2010-09-08 18:09:20