Nähe und Distanz
Der rote, auffällige Rollator ist das wichtigste Hilfsmittel, an dem Jane
Christmas Mutter sich allüberall festhält. Ohne geht es nicht. Vor allem nicht
auf der gemeinsamen, auf sechs Wochen hin angelegten Reise des kanadischen
Tochter - Mutter Gespanns nach Italien.
Diese Reise nach Italien, die Motivation zur Reise durch Jane, einerseits ihre
"Liebe" Italien persönlich kennen zu lernen und andererseits ihr
lebenslang angespanntes Verhältnis zur Mutter in eine befriedete Ordnung zu
bringen, dem Wunsch ihres vor kurzen verstorbenen Vaters folgend, ist die
Geschichte dieses Buches.
Vom leicht humorig wirkenden Untertitel her wäre entweder eine anrührende
Geschichte über das Leben mit nachlassenden Kräften zu erwarten oder eine
humorige Aneinanderreihung von situationskomischen Erlebnissen mit dem Rollator
in engen Gassen auf unebenem Kopfsteinpflaster. Gut, dass beide assoziativen
Erwartungen das Buch letztlich nicht ausmachen. Dies ist allerdings auch der
einzige deutliche Kritikpunkt am Buch, der gewählte Untertitel löst einfach
falsche Fantasien aus und schreckt eher ab, denn dass er neugierig macht auf
diese durchaus ernstzunehmende und sprachlich gut und flüssig geschriebene
Geschichte. Die Geschichte einer Reise, einer Selbstfindung und einer
versuchten Beziehungsklärung, bei der Hoffnungen, Sehnsüchte, schöne
Erlebnisse und heftig enttäuschte Erwartungen auf allen Ebenen
ineinanderfließen, sich gegenseitig bedingen und doch, zum Schluss hin, in eine
versöhnliche, innere Haltung münden.
Sicherlich ist die ein oder andere Beschreibung der bärbeißigen, kühl
distanzierten Mutter, deren wichtigstes Beziehungsthema zur Tochter deren
unmögliche Frisur ist und die mitsamt ihrem Rollator Italien, vor allem aber
die eigene Tochter, durchaus von Verwunderung über Staunen und
Hilfsbereitschaft bis zur offenen Ablehnung bringt von Situationskomik
durchzogen. Diese verbleibt allerdings unaufdringlich, liegt tatsächlich in
der geschilderten Situation selber begründet und wird von der Autorin nicht
marktschreierisch ausgeschlachtet.
Der tiefere Eindruck des Buches rührt aus der Vielzahl enttäuschter
Erwartungen und der inneren Reaktion auf diese her. Jane Christmas erzählt ihre
Geschichte allein aus ihrer Perspektive und versteht es, den Leser mit auf ihre
verschiedenen Reisen zu nehmen. So erfahren wir eine Menge über die andere,
nicht bunt bemalte Seite Italiens, schlechtes Wetter, schlechtes Essen, keine
Rücksicht auf Behinderte und viele unfreundliche Dienstleister. Dem gegenüber
eine Freude dann die Lichtblick der etwas anderen Reise. Herzlichkeit,
überraschende Schönheiten an ganz unbekannten Orten, kleine Museen, die das
Herz öffnen und weltbekannte, die nicht nur die Autorin seltsam unberührt
lassen. So revidiert sich in Jane Christmas die zu Beginn der Reise kritiklose
Italienverehrung zu einer realistischen und dennoch am Ende liebevollen Sicht
auf das Land.
Eine Entwicklung, die natürlich begleitet wird vom zweiten Hauptzweck der
Reise, der Befriedung mit der Mutter. Hier versteht es Jane Christmas, dem
inneren Zwiespalt einen wunderbaren und nachvollziehbaren Ausdruck zu verleihen.
Vom zur Explosion reizenden Generve der Mutter über alles und jeden und so gut
wie jede Unterkunft und Ortschaft über berührende Betrachtungen der
Hinfälligkeit, der Unmöglichkeit, an vielen Orten mit der stark
eingeschränkten Mutter jenes Italien überhaupt zu finden und dann zu
genießen, welches Jane sucht bis hin zur Sprachlosigkeit über viele
Verletzungen der Kinder- und Jugendzeit und den weiterhin unterschwellig
angreifenden Vorwürfen der Mutter lässt die Autorin den Leser an der inneren
Vielfalt der Beziehung teilhaben. Die durchaus vorkommenden Zusammenbrüche sind
auf diesem Hintergrund äußerst verständlich.
Dass die Befriedung mit der Mutter, eigentlich mit den Eltern, letztlich eine
ganz eigene, innerpersönliche Angelegenheit ist, die durch das berührende und
berührend geschilderte Kunstwerk La Vedove von Ernest Bazzaro plötzlich offen
vor Augen liegt führt zu guter Letzt die Geschichten und Stränge des Buches
ineinander und zusammen. So hat doch noch Italien es geschafft, Jane Christmas
zu berühren und ebenso den inneren Frieden mit Mutter zu befördern.
Fazit
Flüssig und gut geschrieben mit vielen Eindrücken eines anderen als des
touristischen Italien und mit einer ehrlichen Aufarbeitung der eigenen
Lebensgeschichte und des Verhältnisses zur Mutter geschrieben ist Jane
Christmas ein hoch informatives Buch mit wirklicher Tiefe gelungen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 08. September 2010 2010-09-08 18:10:42