Philosophie am Scheideweg
Die Frage der Selbstproblematisierung - der Selbstreflexion mit praktischen
Konsequenzen - gehört zu einer jeden anspruchsvollen Wissenschaft, die diesen
Namen verdient. Wohl kaum hat jemand über jegliche akademische, parteiliche und
konfessionelle Grenzen hinweg in seinen Schriften so großen Wert auf die
Realisierung dieses Anspruchs gelegt, wie Johannes Heinrichs. Von ihm sind seit
2000 zahlreiche Bücher sowohl in Neu- als auch in wiederholter Auflage
erschienen, die das 21. Jahrhundert durchaus merklich zu prägen in der Lage
sein könnten, gerade weil sie sich durch eine unnachahmliche Konvergenz von
empirischer Lageanalyse, erkenntnistheoretischer Fundierung und
realistisch-praktischer Ausgestaltung entsprechender Konsequenzen auszeichnen.
Johannes Heinrichs, geboren 1942 in Duisburg-Rheinhausen und einstiger Lehrer an
der Jesuiten-Hochschule in Frankfurt/M., war bis 2002 Professor für
Sozialphilosophie und Sozialökologie in der Nachfolge Rudolf Bahros an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Seinerzeit in Frankfurt als Nachfolger von
Oswald von Nell-Breuning gehandelt, schlug er da einen alternativen Weg ein, der
ihn zu den Quellen seiner ungewöhnlich eigenständigen und von der akademischen
Fachwelt zugleich skeptisch beäugten, aber auch insgeheim bewunderten
Philosophie führte. Es ist dies die Philosophie Kants, Fichtes und Hegels, in
deren Kontinuität er steht. Unsere Besprechung befaßt sich mit einem zentralen
Werk des Autoren: Johannes Heinrichs: Philosophie am Scheideweg. Ein Gespräch
mit Clemens K. Stepina, Passagen Verlag Wien, 2002, 158 S.
Die kompakt geschriebene Erläuterung seines spezifischen philosophischen Weges
findet der Leser in diesem 2002 erschienenen Buch. Als Martin Heidegger 1945
nach Kriegsende Verwüstung, Niedertracht, Geringschätzung, Ende, Verlust und
Selbstpreisgabe der eigenen Philosophie befürchtete, ihm die totale
Entfesselung menschlicher Barbarei im Dienste des Willens zu planetarischer
Macht über den Weg der Maßlosigkeit der Mittel vor Augen stand, suchte er nach
einer Konversationsform, in der die Dinge wieder zu sich selbst zurückkehren
können. So wurde sein stilistisches Mittel ab 1945 in Anknüpfung an Platon der
philosophische Dialog. Allein das Gespräch könne sich vorbehaltlos und frei in
einem Wahrheitsgehalt bewegen, weil ideologische Blickverstellungen
verschwinden. In diesem Sinne schreibt Heidegger seine
"Feldweggespräche", in denen er sich in die Täler des Seins herab
begibt, um den Nimbus der Heiligkeit des Meister Eckhardt und den immer noch
schöpferischen Glauben an das "Deutsche" wirken zu lassen. An diese
heideggersche Tradition hat der Wiener Philosoph Clemens Stepina womöglich
nicht gedacht, als er - von Heinrichs Schriften fasziniert - im Rahmen seiner
eigenen Arbeit "Handlung als Prinzip der Moderne" (2001) die moderne
Bedeutung der Hegelschen Reflexionsphilosophie und damit die Theorie
Heinrichs’ zu ergründen versuchte. Ausdruck dessen ist nicht zuletzt dieser
Interview-Band.
Auch Heinrichs, ähnlich wie Heidegger der von allerlei parteilichen Einflüssen
bedrängten akademischen Zunft entrückt, knüpft in diesem Dialogband an die
traditionelle deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts an. So verwundert es
nicht, wenn Stepina in seinem Vorwort meint, daß die "derzeitige
Schulphilosophie" nicht "Philosophie für die Menschen und ihre
alltäglichen Probleme betreibe" (15). Es scheint, als betreibe man in
deutschen Hochschulen vornehmlich Textexegese des Gewesenen ohne ernsthaften
praktischen Anspruch mehr. Es triumphiert geradezu die von Desinteresse an der
Welt außerhalb des Hörsaals geprägte philologische Philosophie. Vor dem
Hintergrund dieser Feststellung ist der Interviewband zu verstehen: Die
Philosophie - so Heinrichs - steht am "Scheideweg" (143ff.).
Schnell wird klar, worum es ihm geht: Es gibt keine universitäre
Aufbruchstimmung mehr. Die Philosophie denkt also in dem Maße
"seriös" und "philologisch", indem sie den aus praktischer
Reflexion hervorgehenden Widerstandsgeist junger Menschen zu wecken fürchtet.
Der Leser muß - die Kenntnis des Austritts Heinrichs’ aus dem Jesuitenorden
vorausgesetzt - automatisch daran denken, daß dies Heinrichs damals schon
unbehaglich gewesen sein muß. Umso mehr ist das besprochene Buch Ausdruck eines
enormen Freiheitswillens, der zugleich jenseits akademischer
"Sterilität" (138) die Philosophie als gerade notwendig ganzheitliche
und gehaltorientierte Strukturwissenschaft etablieren möchte (130ff.).
Heinrichs geht es in diesem Gesprächsband um die Quelle
philosophisch-systematischen und praktischen Denkens. Stepina ordnet sich diesem
großen Vorhaben bei. Es gelingt ihm vortrefflich, den inhaltlich tiefgründigen
und fast jeden Bereich der Philosophie erfassenden Redefluß von Johannes
Heinrichs zu lenken und zu strukturieren. Deshalb erhält auch die spirituelle
Ebene der Philosophie ihren Rang zugesprochen (127ff.), wobei Heinrichs auf den
von ihm verehrten Gotthard Günther (1900-1984) eingeht. Auch er habe versucht,
tiefere philosophische Sinnhermeneutik und logischen Formalismus der
Schulphilosophie zu vereinen. So ist es verständlich, wenn Heinrichs seinen
Lesern rät, nicht zu philosophieren, wenn er nicht die breite Erlebnisgrundlage
dazu hat. Man könnte sagen, Philosophie leben zu müssen, anstatt sie bei
beliebig zu interpretieren - ein hoher Anspruch, dem nicht jeder gewachsen ist.
Das Buch gliedert sich in Kapitel, die sich an wesentlichen Elementen der
Theorie Heinrichs’ seit den 70’er Jahren orientieren:
Reflexions-Systhemtheorie des Sozialen (33), das semiotische Konzept (63) oder
die Zukunft der Philosophie überhaupt (125). So vermittelt "Philosophie am
Scheideweg" für den aufmerksamen Leser, der die Biographie Heinrichs’
kennt, der seine Motive im Hinterkopf hat und bei fortschreitender Lektüre um
die eigentliche Bedeutung gelebter Dialektik weiß, eine einmalige Spannung. Der
Befragte, der sich während des gesamten Gesprächs an alles Gesagte zu erinnern
vermag und dieses wiederum problemlos in neue Zusammenhänge einzubetten
befähigt ist, hinterläßt den Eindruck, ihn unbedingt lesen zu müssen, seine
Lehre verstehen zu wollen, um davon selbst profitieren zu können. Nach Lektüre
des vorliegenden Interviewbandes, welcher die Bilanz eines dialogischen
Systematikers darstellt, weiß der Leser, daß er zunächst selbst das
Göttliche in sich finden sollte, um an mögliche situative Offenbarung glauben
zu können. Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
Fazit
Dieses Buch weist hin zu einer neuen, praktischeren Dimension der Betrachtung
unserer gegenwärtigen Philosophie.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 26. Juni 2007 2007-06-26 20:54:20