Als im Jahr 2005 die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht wurden, war
Thilo Sarrazin Finanzsenator in Berlin. Schüler der Stadtstaaten Bremen,
Hamburg und Berlin hatten in der Untersuchung ihrer Schulleistungen im
weltweiten Vergleich blamabel abgeschnitten. Da in Berlin nicht weniger für
Bildung ausgegeben wird als in Bundesländern, die bei PISA Spitzenplätze
belegten, und ein Berliner Lehrer pro Klasse weniger Schüler zu unterrichten
hatte als ein Lehrer im Bundesgebiet, konnte nur die schlechte Qualität des
Unterrichts Schuld an den Ergebnissen sein. "Sind Berliner Lehrer
dümmer?" fragte Sarrazin darauf provokativ und öffentlichkeitswirksam.
Die Leistungsunterschiede zwischen deutschen Kindern und Schülern mit
Migrationshintergrund haben Sarrazin seither stets beschäftigt. Gewohnt
drastisch kündigt er in "Deutschland schafft sich ab" an
"Deutschland wird kleiner und dümmer" (S. 17). Wer täglich Zeitung
liest, sich mit den Berichten des Neu-Köllner Bürgermeisters Buschkowsky oder
dem Buch der Jugendrichterin Kirsten Heise befasst hat, erfährt auf den ersten
200 Seiten des Buches kaum etwas Neues.
Was schreibt Sarrazin konkret in den ersten vier Kapiteln, die den von ihm
befürchteten Niedergang von Wirtschaft und Bildungssystem und seine Ängste vor
Überfremdung dokumentieren?
- Die Pisa-Sieger Korea, Finnland und Japan haben eine homogene Bevölkerung und
kaum Einwanderer; das klassiche Einwanderungsland USA schneidet in Pisa
schlechter als Bremen ab, Kanada erzielt seine guten Ergebnisse bei PISA, weil
es seine Einwanderer streng selektiert. Hindernisse bei der Integration müssten
demnach in Deutschland in der Bevölkerungsgruppe liegen (S. 59),
Leistungsunterschiede verfestigen sich stets dort, wo es traditionell ein
Unterschicht gibt, wie in Großbritannien.
- Die schulischen Leistungen von Haupt- und Realschülern sind in den letzten 30
Jahren konstant gesunken (Rechtschreibung - 26%, Rechnen - 35% bei den
Hauptschülern). Diese Aussagen stammen aus Firmen, die seit 30 Jahren
identische Einstellungstests verwenden und werden von erfahrenen Ausbildern
bestätigt. Die Bildungsfähigkeit deutscher Schüler verschlechtert sich (S.
12).
- Es gibt regionale Leistungsunterschiede. Rekruten aus der Uckermark schneiden
bei Einstellungstests der Bundeswehr aus "genetisch" bedingten
Gründen schlechter ab als die aus Baden-Württemberg (S.24), (Zahlen von
2007). Da aus dieser Gegend traditonell abgewandert wird, stellt sich sofort die
Frage, ob die Abwanderung Grund für diese Daten sein könnten. Schon auf Seite
76 steuert Sarrazin zurück und weist auf den Einfluss der Abwanderung hin.
- In Berlin lässt sich unabhängig vom Einkommen die Schichtzugehörigkeit von
Kindern zuverlässig durch die Faktoren Übergewicht, Zahngesundheit,
Fernsehverhalten, Sprachentwicklung und motorische Entwicklung feststellen.
Schicht werde daher durch Bildung und Erwerbsarbeit definiert nicht durch das
Einkommen, "Es gibt keine materiellen Gründe, sich nicht die Zähne zu
putzen".
- Deutschland weist eine zu geringe Zahl von Absolventen in technischen
Studienfächern auf, die beste deutsche Hochschule liegt im internationalen
Vergleich auf Platz 55 (S. 52) (hier fehlt das Jahr, aus dem die Zahlen
stammen). Hohe Abbruchquoten in technischen Studienfächern ( 48% in der
Elektrotechnik) zeigen, dass es an geeigneten Studienanfängern fehlt (S. 67)
- Die drei Bevölkerungsgruppen in Deutschland mit den höchsten
Bildungsdefiziten bekommen die meisten Kinder (S. 64)
- Die staatliche Grundsicherung in Deutschland bedingt generatives Verhalten von
Migranten und Zuwanderung (S. 150)
- intelligentere Frauen bringen weniger oder gar keine Kinder zur Welt (S. 9)
Die Reproduktionrate der deutschen Bevölkerung wird stagnieren, das Elterngeld
wird nur unwesentlichen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben.
- Das Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen wird sinken, weil der Anteil
bildungsferner Schichten an den Erwerbstätigen steigen wird (S. 49).
Arbeitsplätze für gering Qualifizierte sind nur in geringer Zahl verfügbar,
sie werden zukünftig noch stärker in Billiglohnländer ausgelagert. Die
Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten lag 2005 bei 26%, während in
qualifizierten Berufen Nachwuchsmangel herrscht.
- In einem Rückblick auf seine Kindheit betont Sarrazin die Bedeutung des
Lesens als Schlüsselqualifikation für den späteren Schulerfolg (S. 192),
dabei verklärt er seine eigene Schulzeit. Auf S. 209 überschätzt Sarrazin
zum gleichen Thema den Nutzen auswendig gelernten Wissens. Er geht nicht auf die
seither veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes (Teamfähgikeit,
Urteilsfähigkeit) ein. Ein Schüler, der beurteilen kann, ob die Quellen, die
Sarrazin in seinem Buch anführt, glaubwürdig sind, ist vermutlich dem Schüler
überlegen, der Schillers Glocke aufsagen kann, aber über geringe
Medienkompetenzen verfügt.
- In seinen Gedanken zu Armut, Zufriedenheit und individuellen
Glücksvorstellungen in Kapitel 4 lehnt Sarrazin sich an den Armutsforscher
Amartya Sen an.
Das Lindern von Armut raubt den Betroffenen indirekt Stolz und Selbstbewusstsein
(S. 128)
- Der Arbeitende sieht seine Leistung entwertet und seinen sozialen Rang
herabgestuft, wenn die Transferleistungen sich dem Arbeitseinkommen zu stark
annähern. Die Differenz zwischen beiden Beträgen müsse groß genug sein, um
Zufriedenheit bei den Beziehern geringer Einkommen sicherzustellen (S. 160).
In seinen umstrittenen Äußerungen zu Vererbung von Intelligenz (S. 91) bezieht
sich Sarrazin auf Rost: Intelligenz, Fakten und Mythen 2009, sowie auf Darwin
und Mendel (S. 351).
Konkret schreibt er:
Intelligenz-Unterschiede sind z. Teil erblich (S. 98)
60% der Intelligenz sei erblich (Science 276) von 1997
Intelligenz sei zu 80% erblich, 20% seien umweltbedingt (S. 215),
Intelligenz sei zu 50-80% erblich (S. 226)
Mit der Aussage: "Auf die genetische wird die kulturelle Prägung
gesetzt" (S. 173) schwächt er die unterschiedlichen Angaben gleich selbst
ab. Diese Zitate aus unterschiedlichen Quellen sind wohl kaum ein haltbarer
Beweis seiner Thesen.
Nach einem Exkurs über den Sinn eines Bedingungslosen Grundeinkommen (S. 141)
folgt auf S. 177 der erste konkrete Vorschlag:
- Keine Transferleistungen ohne Gegenleistung mehr. Vorbild dafür ist das
amerikanische Workfare Konzept, das besonder junge alleinerziehende Mütter in
Ausbildung und Arbeit bringen soll. Durch Absenken der Grundsicherung und
weitere Maßmahmen soll der Reiz erhöht werden, eine Arbeit aufzunehmen.
In Kapitel 6 Bildung und Gerechtigkeit bezieht Sarrazin sich auf einen Artikel
von Elisabeth Stern (Die Zeit 2005), die sich inzwischen von ihm distanzierte,
weiter zitiert er häufig aus: Largo: Kinderjahre. Der Autor definiert einen
umfassenden Bildungsbegriff, der Gemeinschaftsfähigkeit, und das Kennenlernen
eigener Stärken und Schwächen umfasst. Er fordert in der Erziehung Führung,
Zuwendung, Disziplin, Leistungsanforderungen und bekalgt, Kindern mangele es
heute hauptsählich an der Beziehung (S. 202).
Die Wirkung des Föderalismus auf das deutsche Bildungssystem zeigt der Autor an
dem in Hamburg schon vorab gescheiterten Plan eines zweigliedrigen Schulsystems
auf (S. 219), und kündigt an, dass bildungsnahe Schichten als Reaktion
Reformen wie diese zu Privatschulen abwandern werden. Dass Bayern mit seinem
konventionellen, gegliederten Schulsystem im bundesweiten Vergleich bessere
Leistugen bei den leistungsschwächeren Schülern erzielt, sie also besser
fördert, ist für Sarrazin Beweis, dass nicht die Struktur des Systems
entscheidend sei, sondern die Qualität des Unterrichts (S. 222).
Der Vorschlag flächendeckende Ganztagsbetreung und Ganztagsschule als
Spezialbehandlung für Kinder bildungsferner Schichten (S. 231) wirft beim Leser
die Frage auf, ob nicht die verordnete staatliche Erziehung zum Verlust
jeglicher Erziehungs-Kompetenz führen wird. Die im Ton martialische Forderung
nach Beratung junger Eltern (die es als niederschwelliges Angebot in der Form
der Familienhebamme längst gibt und die sich bewährt hat) setzt - wie so
viele Verbesserungen der Lebensbedinungen von Familien - den politischen Willen
voraus, Hilfen auch zu finanzieren.
Die Forderung des Autors nach zentraler Leistungsmessung an Schulen stellt den
Föderalismus in Frage (S. 250) und scheint einer der wenigen bedenkenswerten
Vorschläge zu sein.
Sarrazins Massnahmenpaket lehnt sich weitgehend an die Thesen Heinz
Buschkowskys an (S. 304). Die Wunschvorstellung, eine Einführung von
Schuluniformen senke die Kosten für Bekleidung, wirkt in diesem Zusammenhang
bizarr (S. 286).
Kapitel 7 Zuwanderung
Die Vermutung, dass muslimische Migranten, die von Transferleistungen leben, die
höchste Geburtenrate hätten, kann vom Autor nicht belegt werden; denn bei der
Erfassung der Geburten wird die Religion nicht berücksichtigt (S. 318). Die
Herkunfstsangaben bei den Meldeämtern sind entweder gar nicht vorhanden oder
ungenau. Auch die vereinfachte Aussage dass muslimische Migranten den deutschen
Staat mehr kosten als sie erwirtschaften, beweist Sarrazin nicht.
- Zarrazins Forderung zur Steuerung der Zuwanderung: kein Zuzug von Ehepartnern,
wenn der in Deutschland lebende Partner Grundsicherung erhält, dazu fordert er
eine Änderung des Sozial- und Aufenthaltsrechts.
Im Kapitel 8 Demografie geht es um die Entwicklung der Weltbevölkerung, sowie
den Einfluss der Entwicklung anderer Staaten (z. B. Afrika) auf Europa (Die
Daten sind zumeist von 2008). Deutschland hat nach Sarrazin zukünftig unter
fünf demografischen Grundlasten zu leiden: einer wachsenden Rate kinderloser
Frauen (40% der Akademikerinnen sind schon heute kinderlos), der Alterung der
Bevölkerung, einer sinkenden Zahl an Erwerbspesonen, einer Bevölkerungsabnahme
und der wachsenden Dominanz bildungsferner Schichten, die wiederum durch weitere
Zuwanderung von Muslimen verschärft würde. Obwohl Sarrazin bezweifelt, ob
eine Fortschreibung der Bevölkerungsentwicklung über 40 Jahre überhaupt
möglich ist, nimmt er diese Fortschreibung in seinem abschließenden Szenario
selbst vor.
Die Verteilung der Geburtenrate in Abhängigkeit von der Bildung ist nur eine
Modellrechnung (S. 355); denn die Geburtenrate kann erst nachträglich
ermittelt werden, nachdem die reproduktive Phase einer Frauengeneration
abgeschlossen ist. "Es gibt keine Methode, Geburtenverhalten und
Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte zuverlässig vorauszusagen" (S. 360).
Sarrazins Aussage, dass die Transferleistungen die Geburtenrate von Migranten
beeinflussen, wirkt besonders widersprüchlich, da andererseits nach seiner
Aussage eine Wirkung des Elterngelds auf die Geburtenrate nicht nachweisbar ist
(S. 382) und auch das Kindergeld die Nettoreproduktionsrate nicht beeinflusst
hat (S. 388). Abschließend stellt sich die Frage, ob die Entscheidung, Kinder
in die Welt zu setzen, überhaupt rational genug entschieden wird, um durch
bevölkerungspolitische Maßnahmen gesteuert werden zu können und Prämien nur
einen Mitnahmeffekt bewirken. Das Familiensplitting in Frankreich (Frankreich
weist eine deutlich höhrere Geburtenrate als Deutschland auf), auf das Sarrazin
leider nur zaghaft hinweist, halte ich für wirkungsvoller als alle seine
anderen Vorschläge.
Formale Kritik:
Die Glaubwürdigkeit der Argumentation leidet darunter, dass die Zahlen zur
Bevölkerungsentwicklung (S. 61) aus dem Jahr 2005 stammen und an anderen
Stellen keine Zahlen angegeben werden (z. B. S. 285). Der Armutsbericht von
2008 enthält Zahlen von 2005. Auch in den letzten Kapiteln werden Zahlen
genannt, die nicht belegt werden (20% aller Gewalttaten werden von muslimischen
Intensivtätern begangen - S. 297), während Heisig in dem Fall von 20% der
Tatverdächtigen in Berlin spricht.
Zusammenhänge sind in einigen Fällen schwer verständlich, weil die Sprache zu
unpräzise ist, z. B. der Einfluss von Vorbild und Verhalten der Eltern (S.
88), "Essenausgaben und Suppenküchen", mit denen wohl die Tafeln oder
die Arche gemeint sind (S. 120), der irreführende Gebrauch des Begriffs
Sozialhilfe, die es seit 2005 nicht mehr gibt, (S. 139), der nicht existierende
Begriff Bruttonationalprodukt, (Seite 138 unten) hätte einem Lektor auffallen
müssen, der Begriff Hochbegabung wird in Bezug auf einen Artikel von 1997 über
den Zusammenhang Herkunft/College-Abschluss falsch gebraucht (S. 226), der
Begriff erblicher Schwachsinn (S. 232, 370) wird dem Problem erblicher
Krankheiten und Behinderung unter Migranten nicht gerecht. (Die Aussage auf
Seite 370 bezieht sich auf einen Artikel im Spiegel 36/2009, sie ist vermutlich
kein wörtliches Zitat).
Fazit
Das Buch bietet eine ganze Reihe Wiederholungen; es bringt Lesern, die täglich
die Zeitung lesen, kaum etwas Neues. Die zitierten Aussagen von Kirsten Heisig
und Hans Buschkowsky sind sozial interessierten Lesern bereits bekannt. Der Text
ist schlecht lektoriert. Seine sprachlichen Schwächen hinterlassen den
Eindruck, der Verlag habe sich darauf verlassen, dass heute Inhalte
hauptsächlich in Talkshows vermittelt werden und das Buch nicht wirklich
gelesen wird. Mit unakzeptabler Wortwahl (angeborener Schwachsinn, einem Begriff
aus dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses") wird gerade
die Tür zu den Menschen zugeschlagen, mit denen gemeinsam an den beklagten
Integrationsdefiziten gearbeitet werden müsste. Insbesondere die
polarisierenden Aussagen "Intelligenz ist erblich" (mit vier
unterschiedlichen Zahlenangaben) und "muslimische Einwanderer, die von
Transferleistungen leben, bekommen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung die
meisten Kinder" wird nicht überzeugend begründet. Generell ist zu fragen,
ob Erfahrungen aus Berlin sich auf das Bundesgebiet übertragen lassen. Was sich
nach dem Pisa-Schock vor fünf Jahren in Deutschland inzwischen verändert haben
könnte und welches exakt die Ausgangssituation ist, erfährt man aus Sarrazins
Polemik nicht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 06. September 2010 2010-09-06 08:23:54