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Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

von Thilo Sarrazin
Verlag: Deutsche Verlagsanstalt [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Sachbuch
ISBN-13 978-3-421-04430-3

Preis: 7,98 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
Als im Jahr 2005 die Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht wurden, war Thilo Sarrazin Finanzsenator in Berlin. Schüler der Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin hatten in der Untersuchung ihrer Schulleistungen im weltweiten Vergleich blamabel abgeschnitten. Da in Berlin nicht weniger für Bildung ausgegeben wird als in Bundesländern, die bei PISA Spitzenplätze belegten, und ein Berliner Lehrer pro Klasse weniger Schüler zu unterrichten hatte als ein Lehrer im Bundesgebiet, konnte nur die schlechte Qualität des Unterrichts Schuld an den Ergebnissen sein. "Sind Berliner Lehrer dümmer?" fragte Sarrazin darauf provokativ und öffentlichkeitswirksam. Die Leistungsunterschiede zwischen deutschen Kindern und Schülern mit Migrationshintergrund haben Sarrazin seither stets beschäftigt. Gewohnt drastisch kündigt er in "Deutschland schafft sich ab" an "Deutschland wird kleiner und dümmer" (S. 17). Wer täglich Zeitung liest, sich mit den Berichten des Neu-Köllner Bürgermeisters Buschkowsky oder dem Buch der Jugendrichterin Kirsten Heise befasst hat, erfährt auf den ersten 200 Seiten des Buches kaum etwas Neues.

Was schreibt Sarrazin konkret in den ersten vier Kapiteln, die den von ihm befürchteten Niedergang von Wirtschaft und Bildungssystem und seine Ängste vor Überfremdung dokumentieren?
- Die Pisa-Sieger Korea, Finnland und Japan haben eine homogene Bevölkerung und kaum Einwanderer; das klassiche Einwanderungsland USA schneidet in Pisa schlechter als Bremen ab, Kanada erzielt seine guten Ergebnisse bei PISA, weil es seine Einwanderer streng selektiert. Hindernisse bei der Integration müssten demnach in Deutschland in der Bevölkerungsgruppe liegen (S. 59), Leistungsunterschiede verfestigen sich stets dort, wo es traditionell ein Unterschicht gibt, wie in Großbritannien.

- Die schulischen Leistungen von Haupt- und Realschülern sind in den letzten 30 Jahren konstant gesunken (Rechtschreibung - 26%, Rechnen - 35% bei den Hauptschülern). Diese Aussagen stammen aus Firmen, die seit 30 Jahren identische Einstellungstests verwenden und werden von erfahrenen Ausbildern bestätigt. Die Bildungsfähigkeit deutscher Schüler verschlechtert sich (S. 12).

- Es gibt regionale Leistungsunterschiede. Rekruten aus der Uckermark schneiden bei Einstellungstests der Bundeswehr aus "genetisch" bedingten Gründen schlechter ab als die aus Baden-Württemberg (S.24), (Zahlen von 2007). Da aus dieser Gegend traditonell abgewandert wird, stellt sich sofort die Frage, ob die Abwanderung Grund für diese Daten sein könnten. Schon auf Seite 76 steuert Sarrazin zurück und weist auf den Einfluss der Abwanderung hin.

- In Berlin lässt sich unabhängig vom Einkommen die Schichtzugehörigkeit von Kindern zuverlässig durch die Faktoren Übergewicht, Zahngesundheit, Fernsehverhalten, Sprachentwicklung und motorische Entwicklung feststellen. Schicht werde daher durch Bildung und Erwerbsarbeit definiert nicht durch das Einkommen, "Es gibt keine materiellen Gründe, sich nicht die Zähne zu putzen".

- Deutschland weist eine zu geringe Zahl von Absolventen in technischen Studienfächern auf, die beste deutsche Hochschule liegt im internationalen Vergleich auf Platz 55 (S. 52) (hier fehlt das Jahr, aus dem die Zahlen stammen). Hohe Abbruchquoten in technischen Studienfächern ( 48% in der Elektrotechnik) zeigen, dass es an geeigneten Studienanfängern fehlt (S. 67)

- Die drei Bevölkerungsgruppen in Deutschland mit den höchsten Bildungsdefiziten bekommen die meisten Kinder (S. 64)
- Die staatliche Grundsicherung in Deutschland bedingt generatives Verhalten von Migranten und Zuwanderung (S. 150)

- intelligentere Frauen bringen weniger oder gar keine Kinder zur Welt (S. 9)
Die Reproduktionrate der deutschen Bevölkerung wird stagnieren, das Elterngeld wird nur unwesentlichen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben.

- Das Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen wird sinken, weil der Anteil bildungsferner Schichten an den Erwerbstätigen steigen wird (S. 49). Arbeitsplätze für gering Qualifizierte sind nur in geringer Zahl verfügbar, sie werden zukünftig noch stärker in Billiglohnländer ausgelagert. Die Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten lag 2005 bei 26%, während in qualifizierten Berufen Nachwuchsmangel herrscht.

- In einem Rückblick auf seine Kindheit betont Sarrazin die Bedeutung des Lesens als Schlüsselqualifikation für den späteren Schulerfolg (S. 192), dabei verklärt er seine eigene Schulzeit. Auf S. 209 überschätzt Sarrazin zum gleichen Thema den Nutzen auswendig gelernten Wissens. Er geht nicht auf die seither veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes (Teamfähgikeit, Urteilsfähigkeit) ein. Ein Schüler, der beurteilen kann, ob die Quellen, die Sarrazin in seinem Buch anführt, glaubwürdig sind, ist vermutlich dem Schüler überlegen, der Schillers Glocke aufsagen kann, aber über geringe Medienkompetenzen verfügt.

- In seinen Gedanken zu Armut, Zufriedenheit und individuellen Glücksvorstellungen in Kapitel 4 lehnt Sarrazin sich an den Armutsforscher Amartya Sen an.
Das Lindern von Armut raubt den Betroffenen indirekt Stolz und Selbstbewusstsein (S. 128)
- Der Arbeitende sieht seine Leistung entwertet und seinen sozialen Rang herabgestuft, wenn die Transferleistungen sich dem Arbeitseinkommen zu stark annähern. Die Differenz zwischen beiden Beträgen müsse groß genug sein, um Zufriedenheit bei den Beziehern geringer Einkommen sicherzustellen (S. 160).

In seinen umstrittenen Äußerungen zu Vererbung von Intelligenz (S. 91) bezieht sich Sarrazin auf Rost: Intelligenz, Fakten und Mythen 2009, sowie auf Darwin und Mendel (S. 351).
Konkret schreibt er:
Intelligenz-Unterschiede sind z. Teil erblich (S. 98)
60% der Intelligenz sei erblich (Science 276) von 1997
Intelligenz sei zu 80% erblich, 20% seien umweltbedingt (S. 215),
Intelligenz sei zu 50-80% erblich (S. 226)
Mit der Aussage: "Auf die genetische wird die kulturelle Prägung gesetzt" (S. 173) schwächt er die unterschiedlichen Angaben gleich selbst ab. Diese Zitate aus unterschiedlichen Quellen sind wohl kaum ein haltbarer Beweis seiner Thesen.

Nach einem Exkurs über den Sinn eines Bedingungslosen Grundeinkommen (S. 141) folgt auf S. 177 der erste konkrete Vorschlag:
- Keine Transferleistungen ohne Gegenleistung mehr. Vorbild dafür ist das amerikanische Workfare Konzept, das besonder junge alleinerziehende Mütter in Ausbildung und Arbeit bringen soll. Durch Absenken der Grundsicherung und weitere Maßmahmen soll der Reiz erhöht werden, eine Arbeit aufzunehmen.

In Kapitel 6 Bildung und Gerechtigkeit bezieht Sarrazin sich auf einen Artikel von Elisabeth Stern (Die Zeit 2005), die sich inzwischen von ihm distanzierte, weiter zitiert er häufig aus: Largo: Kinderjahre. Der Autor definiert einen umfassenden Bildungsbegriff, der Gemeinschaftsfähigkeit, und das Kennenlernen eigener Stärken und Schwächen umfasst. Er fordert in der Erziehung Führung, Zuwendung, Disziplin, Leistungsanforderungen und bekalgt, Kindern mangele es heute hauptsählich an der Beziehung (S. 202).

Die Wirkung des Föderalismus auf das deutsche Bildungssystem zeigt der Autor an dem in Hamburg schon vorab gescheiterten Plan eines zweigliedrigen Schulsystems auf (S. 219), und kündigt an, dass bildungsnahe Schichten als Reaktion Reformen wie diese zu Privatschulen abwandern werden. Dass Bayern mit seinem konventionellen, gegliederten Schulsystem im bundesweiten Vergleich bessere Leistugen bei den leistungsschwächeren Schülern erzielt, sie also besser fördert, ist für Sarrazin Beweis, dass nicht die Struktur des Systems entscheidend sei, sondern die Qualität des Unterrichts (S. 222).

Der Vorschlag flächendeckende Ganztagsbetreung und Ganztagsschule als Spezialbehandlung für Kinder bildungsferner Schichten (S. 231) wirft beim Leser die Frage auf, ob nicht die verordnete staatliche Erziehung zum Verlust jeglicher Erziehungs-Kompetenz führen wird. Die im Ton martialische Forderung nach Beratung junger Eltern (die es als niederschwelliges Angebot in der Form der Familienhebamme längst gibt und die sich bewährt hat) setzt - wie so viele Verbesserungen der Lebensbedinungen von Familien - den politischen Willen voraus, Hilfen auch zu finanzieren.
Die Forderung des Autors nach zentraler Leistungsmessung an Schulen stellt den Föderalismus in Frage (S. 250) und scheint einer der wenigen bedenkenswerten Vorschläge zu sein.
Sarrazins Massnahmenpaket lehnt sich weitgehend an die Thesen Heinz Buschkowskys an (S. 304). Die Wunschvorstellung, eine Einführung von Schuluniformen senke die Kosten für Bekleidung, wirkt in diesem Zusammenhang bizarr (S. 286).

Kapitel 7 Zuwanderung
Die Vermutung, dass muslimische Migranten, die von Transferleistungen leben, die höchste Geburtenrate hätten, kann vom Autor nicht belegt werden; denn bei der Erfassung der Geburten wird die Religion nicht berücksichtigt (S. 318). Die Herkunfstsangaben bei den Meldeämtern sind entweder gar nicht vorhanden oder ungenau. Auch die vereinfachte Aussage dass muslimische Migranten den deutschen Staat mehr kosten als sie erwirtschaften, beweist Sarrazin nicht.
- Zarrazins Forderung zur Steuerung der Zuwanderung: kein Zuzug von Ehepartnern, wenn der in Deutschland lebende Partner Grundsicherung erhält, dazu fordert er eine Änderung des Sozial- und Aufenthaltsrechts.

Im Kapitel 8 Demografie geht es um die Entwicklung der Weltbevölkerung, sowie den Einfluss der Entwicklung anderer Staaten (z. B. Afrika) auf Europa (Die Daten sind zumeist von 2008). Deutschland hat nach Sarrazin zukünftig unter fünf demografischen Grundlasten zu leiden: einer wachsenden Rate kinderloser Frauen (40% der Akademikerinnen sind schon heute kinderlos), der Alterung der Bevölkerung, einer sinkenden Zahl an Erwerbspesonen, einer Bevölkerungsabnahme und der wachsenden Dominanz bildungsferner Schichten, die wiederum durch weitere Zuwanderung von Muslimen verschärft würde. Obwohl Sarrazin bezweifelt, ob eine Fortschreibung der Bevölkerungsentwicklung über 40 Jahre überhaupt möglich ist, nimmt er diese Fortschreibung in seinem abschließenden Szenario selbst vor.

Die Verteilung der Geburtenrate in Abhängigkeit von der Bildung ist nur eine Modellrechnung (S. 355); denn die Geburtenrate kann erst nachträglich ermittelt werden, nachdem die reproduktive Phase einer Frauengeneration abgeschlossen ist. "Es gibt keine Methode, Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte zuverlässig vorauszusagen" (S. 360). Sarrazins Aussage, dass die Transferleistungen die Geburtenrate von Migranten beeinflussen, wirkt besonders widersprüchlich, da andererseits nach seiner Aussage eine Wirkung des Elterngelds auf die Geburtenrate nicht nachweisbar ist (S. 382) und auch das Kindergeld die Nettoreproduktionsrate nicht beeinflusst hat (S. 388). Abschließend stellt sich die Frage, ob die Entscheidung, Kinder in die Welt zu setzen, überhaupt rational genug entschieden wird, um durch bevölkerungspolitische Maßnahmen gesteuert werden zu können und Prämien nur einen Mitnahmeffekt bewirken. Das Familiensplitting in Frankreich (Frankreich weist eine deutlich höhrere Geburtenrate als Deutschland auf), auf das Sarrazin leider nur zaghaft hinweist, halte ich für wirkungsvoller als alle seine anderen Vorschläge.

Formale Kritik:
Die Glaubwürdigkeit der Argumentation leidet darunter, dass die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung (S. 61) aus dem Jahr 2005 stammen und an anderen Stellen keine Zahlen angegeben werden (z. B. S. 285). Der Armutsbericht von 2008 enthält Zahlen von 2005. Auch in den letzten Kapiteln werden Zahlen genannt, die nicht belegt werden (20% aller Gewalttaten werden von muslimischen Intensivtätern begangen - S. 297), während Heisig in dem Fall von 20% der Tatverdächtigen in Berlin spricht.

Zusammenhänge sind in einigen Fällen schwer verständlich, weil die Sprache zu unpräzise ist, z. B. der Einfluss von Vorbild und Verhalten der Eltern (S. 88), "Essenausgaben und Suppenküchen", mit denen wohl die Tafeln oder die Arche gemeint sind (S. 120), der irreführende Gebrauch des Begriffs Sozialhilfe, die es seit 2005 nicht mehr gibt, (S. 139), der nicht existierende Begriff Bruttonationalprodukt, (Seite 138 unten) hätte einem Lektor auffallen müssen, der Begriff Hochbegabung wird in Bezug auf einen Artikel von 1997 über den Zusammenhang Herkunft/College-Abschluss falsch gebraucht (S. 226), der Begriff erblicher Schwachsinn (S. 232, 370) wird dem Problem erblicher Krankheiten und Behinderung unter Migranten nicht gerecht. (Die Aussage auf Seite 370 bezieht sich auf einen Artikel im Spiegel 36/2009, sie ist vermutlich kein wörtliches Zitat).
Fazit
Das Buch bietet eine ganze Reihe Wiederholungen; es bringt Lesern, die täglich die Zeitung lesen, kaum etwas Neues. Die zitierten Aussagen von Kirsten Heisig und Hans Buschkowsky sind sozial interessierten Lesern bereits bekannt. Der Text ist schlecht lektoriert. Seine sprachlichen Schwächen hinterlassen den Eindruck, der Verlag habe sich darauf verlassen, dass heute Inhalte hauptsächlich in Talkshows vermittelt werden und das Buch nicht wirklich gelesen wird. Mit unakzeptabler Wortwahl (angeborener Schwachsinn, einem Begriff aus dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses") wird gerade die Tür zu den Menschen zugeschlagen, mit denen gemeinsam an den beklagten Integrationsdefiziten gearbeitet werden müsste. Insbesondere die polarisierenden Aussagen "Intelligenz ist erblich" (mit vier unterschiedlichen Zahlenangaben) und "muslimische Einwanderer, die von Transferleistungen leben, bekommen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung die meisten Kinder" wird nicht überzeugend begründet. Generell ist zu fragen, ob Erfahrungen aus Berlin sich auf das Bundesgebiet übertragen lassen. Was sich nach dem Pisa-Schock vor fünf Jahren in Deutschland inzwischen verändert haben könnte und welches exakt die Ausgangssituation ist, erfährt man aus Sarrazins Polemik nicht.
5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne5 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 06. September 2010

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