Erwachsenwerden in der Provinz
Nicht, dass es nicht schon hart genug war, in der schwäbischen Provinz seine
wilden und nach Orientierung suchenden Jahre der Jugend verbringen zu müssen,
zudem geschieht dies in diesem Buch auch in den lethargischen 90er Jahren des
letzten Jahrhunderts, in denen der Grunge mit all seinen nirwanesken Zweifeln
und depressiven Betrachtungen des Lebens die Mentalität des geistigen
Zeitgeschehens ausdrückt und mit bestimmt.
Als dann auch noch mit Kurt Cobain der letzte Held jugendlichen Aufbegehrens von
eigener Hand stirbt, bleibt wirklich kaum noch etwas im Raum, an dem Sich
Träume und Leidenschaften entzünden könnten.
Eine Stimmung, die orientierungslos durch die Zeiten torkelt. Mittendrin der
clevere Schmall, der erwachsen werdende Protagonist Rohleders mit seinen
Freunden.
Vom ersten Besuch in der sagenumwobenen Rockerkneipe (einen Tag vor Heiligabend)
samt der umgehend folgenden Alkoholvergiftung und einer Mutter, die nach 15
Jahren ob des fehltretenden Sohnes das erste Mal wieder einen Gottesdienst
besucht, über das kleine Vergnügen einer gut gerauchten Bong und anderen
zeitvertreibenden Lebenswichtigkeiten reichen die ertastenden und
experimentierenden Aktionen der Freunde, von denen so manche wirklich keine
sonderlichen Leuchten sind.
Und dies letztlich in einer Umgebung, in der ständig "alles ist, wie
immer". Tag für Tag, Abend für Abend und mit dieser Gleichförmigkeit und
einem guten Teil auch an Perspektivlosigkeit gelingt es dem Buch, das quasi
"Wegdämmern" einer ganzen Generation in wunderbarer Sprache in den
Raum zu stellen.
Mehrfach tauchen diese perspektivlosen Schlüsselelemente im Verlauf des Romans
ausgesprochen auf, immer schwingen sie im Hintergrund mit. Leergezockt und
plattgeraucht wird im Gespräch Schmalls mit seinem Freund Wolle deutlich, dass
trotz heranrückenden Abiturs und einer Welt, die offiziell mit allen
Möglichkeiten weit offen stehen soll, nichts an Idee oder Traum tatsächlich
mehr im Raume steht. Ein Jahr Zivi erst mal, ein Jahr "bezahlter
Absturz", feiern, tanzen, glücklich sein und dann vielleicht Hausmeister,
dass sind die wahren Perspektiven. So verwundert es nicht, dass der ein oder
andere des Freundeskreises Seite für Seite mehr einem tatsächlichen
Lebensabsturz bis zum Gefängnisaufenthalt entgegen geht.
Erzählt wird die ganze Geschichte aus der Rückschau Schmalls, der nach einem
kurzen Aufenthalt im Ausland nach Hause zurückkehrt und merkt, dass bereits
diese kurze Abwesenheit ausgereicht hat, einen endgültigen, inneren
Schlussstrich unter die Jugendjahre zu ziehen.
In wunderbare treffender Sprache, die die emotionalen Tiefen und Höhen der
Protagonisten beständig spürbar in den Raum stellt, gelingt Jörg Harlan
Rohleder in seinem Debütroman ein fast schmerzlich spürbares Erfassen und
Darstellen der 90er Jahre mit ihrer fortschreitenden, lähmenden
Perspektivlosigkeit für jene, die in diesen Jahren heranwuchsen.
Selten gelingt es einem Autor, seine Personen und deren Umfeld in solch
treffender, oft in nur kurzen Sätzen skizzierter, Art und Weise auf den Punkt
heraus zu arbeiten, ohne dass irgendjemand (oder irgendetwas) konstruiert
wirkt.
Die spießigen Eltern, die wenig motivierten Lehrer, die zumindest keine innere
Leidenschaft zu vermitteln verstehen und mittendrin die Jugend, die von
verzweifelt bis lakonisch die Tage verstreichen lässt und schon früh die Sinne
sich lieber vernebelt, als allzu genau mit klarem Kopf das Geschehen zu
betrachten.
Fazit
Handwerklich, sprachlich und in seinen treffenden Aussagen, die im Geschehen des
Buches immer in bester Weise fühlbar in den Raum treten ein ganz hervorragendes
Buch und ein ebenso hervorragender Blick auf eine der letzten weitgehend
krisenlosen Zeiten der jüngeren Vergangenheit.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 26. August 2010 2010-08-26 14:52:16