Bresekow, ein Dorf in Ostvorpommern, bedeutet für die 16-jährige Romy das
Zentrum des Nichts. Aus Anklam mit immerhin rund 13 000 Einwohnern sind Romy,
ihre Mutter Sonja und Sonjas Partner Friedhelm gerade nach Bresekow gezogen.
Sonja mit dem frischem DDR-Lehrerinnen-Slang übernimmt in Bresekow die Leitung
des Jugendclubs. Es ist nur eine AB-Maßnahme und dennoch wird Sonja geneidet,
dass sie als Auswärtige diese Arbeitsstelle erhalten hat. Sonja soll wegen der
geringen Zahl von Jugendlichen in dieser Gegend alle Jugendclubs im Umkreis
betreuen. "Ihre" Jugendlichen sehen dieses Arrangement im Zeichen der
Abwanderung aus Ostdeutschland als sozialen Abstieg; sie hätten Sonja gern nur
für sich. Eine feste Clique Jugendlicher hängt in Bresekows verfallenden
LPG-Gebäuden herum, die sie "die Elpe" nennen. Ecki ist ihr
Anführer; denn die anderen brauchen jemanden, der ihnen sagt, wer etwas taugt.
Sonja fällt die unreflektierte Fremdenfeindlichkeit der Jugendlichen auf -
"nur noch Kanaken in Anklam". Um jeden sorgt sich Sonja, nur zu ihrer
Tochter Romy findet sie keinen Draht. Romy, gegen ihren Willen in die Provinz
verpflanzt, erzählt druckreif, ihr Redefluss ist kaum zu stoppen. Romy schafft
mit ihrer Sprache Distanz zu den anderen im Dorf. Wer hier nicht Platt
spricht, gerät schnell in den Verdacht, sich für etwas Besseres zu halten.
Sonja und Romy sind nur zwei der vielen Erzählerstimmen im Buch. Drei
Generationen kommen zu Wort, einige sprechen Plattdeutsch, andere Hochdeutsch
mit norddeutschem Einschlag, wir erkennen Stimmen aus dem Dorf und von
außerhalb. Aus hastig hingeworfenen Halbsätzen ist der Dorfklatsch zu ahnen.
Es entsteht eine zunächst verwirrende Geräuschkulisse wie auf auf einer
Familienfeier, auf der man noch kaum jemanden kennt. Aus dem Stimmengewirr
treten bald mehrere Bresekower Familien hervor, deren Schicksale seit der
Gründung der DDR in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart miteinander
verknüpft sind.
Anna Hanske, die nun in Bresekow beerdigt wird, war zum Ende des Zweiten
Weltkriegs ungefähr 20 Jahre alt. In den Wirren von Flucht und Vertreibung nahm
sie einen elternlosen Säugling bei sich auf. Annas Mann Theo, der ein
sozialistischer Mustergenosse der jungen Republik werden sollte, setzte sich
bald in den Westen ab, ließ Anna, den kleinen Peter und die gemeinsame Tochter
Ingrid zurück. Ingrid Hanske kehrte später als Erwachsene wie viele damals
von einer Beerdigung in Westdeutschland nicht ins Dorf zurück. Ingrid lebt nun
für kurze Zeit mit ihrem irischen Mann und Sohn Paul im Dorf. Herzensbrecher
Paul rührt mit seinen Fragen an die provinzielle Enge, lässt Romys Einsamkeit
ahnen. Bleibt noch der geistig behinderte Henry, genannt Haha, den jemand als
Kleinkind bei Anna zurückließ und der inzwischen in einer geschlossenen
Einrichtung lebt. Romys Freundin Ella, Tochter des Lehrers Hartmut, spielt die
Rolle des verhassten Lehrerkinds. 60 Jahre nach dem Krieg ist Ella für manchen
hier als Urenkelin eines Polen noch immer eine Polenschlampe. Aus der Stadt zu
stammen oder ehrgeizig in der Schule zu sein, genügt bereits, um von den
Dorfbewohnern gemieden zu werden. Als Hartmuts Großvater vor Jahrzehnten aus
Polen ins Dorf kam, konnten die Bresekower sich für kurze Zeit nicht erlauben,
auf den Fremden herabzusehen; die Landwirtschaft war damals dringend auf einen
Tierarzt angewiesen.
Nachkommen von Flüchtlingen aus Polen, ehemalige Republikflüchtige, die in
ihr Heimatdorf zurückkehren, der Durchschnitt und der Abschaum stehen sich in
Bresekow sehr misstrauisch gegenüber. Der Vorhang vor den
Familien-Geheimnissen hebt sich in Judith Zanders umfangreichem Provinzroman
erst allmählich. Die Stärke der jungen Autorin, die selbst aus Anklam stammt,
liegt in der Charakterisierung von Sonja und Romy, Frauenfiguren, die ihr im
Alter nahestehen. Maria und Anna, die um 1925 geboren sein können, haben vor
der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland bereits in Hitlers
nationalzialistischem Deutschland gelebt. Die spürbare Entfremdung zwischen den
beiden Frauen, die in Marias Jugenderinnerungen anklingt, liegt vermutlich nicht
nur in persönlichen Gründen, sondern auch in den Umständen der
Zwangskollektivierung der oststdeutschen Landwirtschaft. Dass Zanders Figuren
drei unterschiedlichen Generationen angehören, in verschiedenen politischen
Systemen aufwuchsen, wird nur knapp angedeutet. Für einen Roman dieses Umfangs
bleiben die Nebenfiguren recht farblos; Deutschlands östlichster Winkel wird
hauptsächlich aus der Sicht bildungsbeflissener Familien erfahrbar.
Fazit
"Dinge, die wir heute sagten" mit seinen zahlreichen Figuren hat mich
wie kein anderer in diesem Jahr veröffentlichter Roman beschäftigt. Dennoch
bin ich enttäuscht, dass sich die zu Anfang erhoffte Vielstimmigkeit nicht
einstellte und der soziale und politische Hintergrund der Ereignisse zu ahnen,
aber nicht zu spüren ist.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 24. August 2010 2010-08-24 09:17:51