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Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten

Dinge, die wir heute sagten

von Judith Zander
Verlag: dtv [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-423-24794-8

Preis: 1,57 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
Bresekow, ein Dorf in Ostvorpommern, bedeutet für die 16-jährige Romy das Zentrum des Nichts. Aus Anklam mit immerhin rund 13 000 Einwohnern sind Romy, ihre Mutter Sonja und Sonjas Partner Friedhelm gerade nach Bresekow gezogen. Sonja mit dem frischem DDR-Lehrerinnen-Slang übernimmt in Bresekow die Leitung des Jugendclubs. Es ist nur eine AB-Maßnahme und dennoch wird Sonja geneidet, dass sie als Auswärtige diese Arbeitsstelle erhalten hat. Sonja soll wegen der geringen Zahl von Jugendlichen in dieser Gegend alle Jugendclubs im Umkreis betreuen. "Ihre" Jugendlichen sehen dieses Arrangement im Zeichen der Abwanderung aus Ostdeutschland als sozialen Abstieg; sie hätten Sonja gern nur für sich. Eine feste Clique Jugendlicher hängt in Bresekows verfallenden LPG-Gebäuden herum, die sie "die Elpe" nennen. Ecki ist ihr Anführer; denn die anderen brauchen jemanden, der ihnen sagt, wer etwas taugt. Sonja fällt die unreflektierte Fremdenfeindlichkeit der Jugendlichen auf - "nur noch Kanaken in Anklam". Um jeden sorgt sich Sonja, nur zu ihrer Tochter Romy findet sie keinen Draht. Romy, gegen ihren Willen in die Provinz verpflanzt, erzählt druckreif, ihr Redefluss ist kaum zu stoppen. Romy schafft mit ihrer Sprache Distanz zu den anderen im Dorf. Wer hier nicht Platt spricht, gerät schnell in den Verdacht, sich für etwas Besseres zu halten.

Sonja und Romy sind nur zwei der vielen Erzählerstimmen im Buch. Drei Generationen kommen zu Wort, einige sprechen Plattdeutsch, andere Hochdeutsch mit norddeutschem Einschlag, wir erkennen Stimmen aus dem Dorf und von außerhalb. Aus hastig hingeworfenen Halbsätzen ist der Dorfklatsch zu ahnen. Es entsteht eine zunächst verwirrende Geräuschkulisse wie auf auf einer Familienfeier, auf der man noch kaum jemanden kennt. Aus dem Stimmengewirr treten bald mehrere Bresekower Familien hervor, deren Schicksale seit der Gründung der DDR in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart miteinander verknüpft sind.

Anna Hanske, die nun in Bresekow beerdigt wird, war zum Ende des Zweiten Weltkriegs ungefähr 20 Jahre alt. In den Wirren von Flucht und Vertreibung nahm sie einen elternlosen Säugling bei sich auf. Annas Mann Theo, der ein sozialistischer Mustergenosse der jungen Republik werden sollte, setzte sich bald in den Westen ab, ließ Anna, den kleinen Peter und die gemeinsame Tochter Ingrid zurück. Ingrid Hanske kehrte später als Erwachsene wie viele damals von einer Beerdigung in Westdeutschland nicht ins Dorf zurück. Ingrid lebt nun für kurze Zeit mit ihrem irischen Mann und Sohn Paul im Dorf. Herzensbrecher Paul rührt mit seinen Fragen an die provinzielle Enge, lässt Romys Einsamkeit ahnen. Bleibt noch der geistig behinderte Henry, genannt Haha, den jemand als Kleinkind bei Anna zurückließ und der inzwischen in einer geschlossenen Einrichtung lebt. Romys Freundin Ella, Tochter des Lehrers Hartmut, spielt die Rolle des verhassten Lehrerkinds. 60 Jahre nach dem Krieg ist Ella für manchen hier als Urenkelin eines Polen noch immer eine Polenschlampe. Aus der Stadt zu stammen oder ehrgeizig in der Schule zu sein, genügt bereits, um von den Dorfbewohnern gemieden zu werden. Als Hartmuts Großvater vor Jahrzehnten aus Polen ins Dorf kam, konnten die Bresekower sich für kurze Zeit nicht erlauben, auf den Fremden herabzusehen; die Landwirtschaft war damals dringend auf einen Tierarzt angewiesen.

Nachkommen von Flüchtlingen aus Polen, ehemalige Republikflüchtige, die in ihr Heimatdorf zurückkehren, der Durchschnitt und der Abschaum stehen sich in Bresekow sehr misstrauisch gegenüber. Der Vorhang vor den Familien-Geheimnissen hebt sich in Judith Zanders umfangreichem Provinzroman erst allmählich. Die Stärke der jungen Autorin, die selbst aus Anklam stammt, liegt in der Charakterisierung von Sonja und Romy, Frauenfiguren, die ihr im Alter nahestehen. Maria und Anna, die um 1925 geboren sein können, haben vor der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland bereits in Hitlers nationalzialistischem Deutschland gelebt. Die spürbare Entfremdung zwischen den beiden Frauen, die in Marias Jugenderinnerungen anklingt, liegt vermutlich nicht nur in persönlichen Gründen, sondern auch in den Umständen der Zwangskollektivierung der oststdeutschen Landwirtschaft. Dass Zanders Figuren drei unterschiedlichen Generationen angehören, in verschiedenen politischen Systemen aufwuchsen, wird nur knapp angedeutet. Für einen Roman dieses Umfangs bleiben die Nebenfiguren recht farblos; Deutschlands östlichster Winkel wird hauptsächlich aus der Sicht bildungsbeflissener Familien erfahrbar.
Fazit
"Dinge, die wir heute sagten" mit seinen zahlreichen Figuren hat mich wie kein anderer in diesem Jahr veröffentlichter Roman beschäftigt. Dennoch bin ich enttäuscht, dass sich die zu Anfang erhoffte Vielstimmigkeit nicht einstellte und der soziale und politische Hintergrund der Ereignisse zu ahnen, aber nicht zu spüren ist.
7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne7 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 24. August 2010

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