Daß die Deutschen mit Vorliebe düstere Visionen der Wirklichkeit zeichnen, mag
nicht nur den vielen Philosophen des entsprechenden Menschenschlages in unserem
Lande zu verdanken sein und nur bei ihnen vorkommen, sondern diese Vorliebe ist
längst eine Grundempfindung im Volke selbst. Der Alltag des tristen
demokratischen Tagesablaufes mit seinen schöngeistigen Appellen scheint
langweilig zu sein, wenn er nicht von neuen terroristischen Anschlägen,
extremistischen Übergriffen oder weiteren "skandalösen" Meldungen
flankiert wird, über die man sich dann massenwirksam empören und schließlich
als moralisch fortschrittlich positionieren kann.
Niemand erkannte jene - überflüssigen und düsteren - Sehnsüchte der
menschlichen Seele besser als Friedrich Sieburg. Er fragte sich nämlich, was
denn die eigentlichen Nöte der Menschen seien, fernab aller oberflächlich und
hysterisch von den Medien reproduzierten Skandale. Sieburgs Bücher wurden einst
massenhaft gelesen, sind heute aber fast verschollen. Entsprechend vorbildlich
ist die Herausgabe des vorliegenden Bandes, der eines seiner Hauptwerke dem
Leser neu präsentiert. Sieburg als wichtiger Zeitgenossen seiner Epoche bekommt
damit die Möglichkeit das mitzuteilen, was ihm einst wichtig war und was heute
nicht minder von Bedeutung ist. Davon seien nur wenige Aspekte benannt: Durch
massenmediale Steuerung degeneriert Politik zum Modeartikel. Politiker pochen
auf Moral ohne selbst zu merken, dass sie die Negation ihres eigenen Verhaltens
längst produzieren - eine tiefe unmoralische Haltung gegenüber Andersdenkenden
oder Abweichlern. Dies läuft auf die Entmachtung bzw. Nicht-Repräsentativität
der Parlamente über die Ersetzung politischer Herrschaft durch sachlogische -
moralische - Zwänge hinaus. Diese gegenwärtigen "sekundären
Wirklichkeiten" (Erich Voegelin) sind als ideologische Verzerrungen vor
allem dadurch entstanden, daß sich der Mensch dem göttlichen Grund, der
Transzendenz seiner Existenz, verschließe und nur den Bedürfnissen des
"Ich" folge. Kurz: Es fehlt in der modernen "aufgeklärten"
Welt die Fähigkeit, nötigenfalls zu leiden und Opfer zu bringen. Genau diesen
Sturz des Menschen in die scheinbare Welt unendlichen Wohlbefindens klagt
Sieburg an.
Und so klingen die Gegenstände, die er genüsslich analysiert grundsätzlich
tagesaktuell. Als Rufer auf verlorenem Posten, als Konservativer in einer
Gesellschaft, die seiner nicht achtete, bietet Sieburg in prosaischem Stil
faszinierende Exkurse über Politik, Philosophie und Menschheit an. Er beklagt
die "Lust an der Unfreiheit", den Konsumterror und das Verschwinden
der Intellektuellen hinter den bloßen "Kulturschaffenden". Der Leser
bekommt eindrucksvoll erklärt, wie die Menschen unter der Fuchtel riesiger
Herrschafts- und Entscheidungsmechanismen stehen, gegenüber denen ihre Freiheit
rein formell bleibt. Das Versprechen von Gleichheit sei gescheitert. Der
Kommunismus habe sie verraten, der Kapitalismus habe sie in den Wind geschlagen,
indem er die schändlichsten wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten mit
einer grundsätzlichen - abstrakt bleibenden und eher nur proklamierten -
Gleichheit rechtfertige.
Folgt der geneigte Leser dem Plädoyer Sieburgs, so bleibt für den
Jetztmenschen folgende Haltung anempfohlen: Man sollte sich mit der Endlichkeit
des Seins abfinden und anerkennen, daß die absolute technologische und
vergnügungssüchtige Ausrichtung des heutigen Lebens den unvorhergesehenen
Schlag des Schicksals, des Todes, der Sorge und des Kampfes niemals ganz
wegbetonieren kann. Will man alle Reibungen im Leben moralisch ausmerzen und
jeden Schmerz künstlich vermeiden, so steht am Ende die Überflüssigkeit des
Körpers selbst und dies kann nicht das erklärte Ziel des modernen Menschen
sein.
Fazit
Alles in allem bietet das Buch eine überaus fruchtbare Erkenntnis zur
Entschleunigung und Mäßigung des gegenwärtigen Seins und ein Plädoyer für
mehr Sinnlichkeit des Leibes. Es steht dafür, sich vielmehr auf hohem geistigem
Niveau selbstlos zu verausgaben, um so die lähmende Lust am nächsten ersehnten
Untergangsszenario zu vertreiben.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 06. August 2010 2010-08-06 14:35:05