Kampf um ein echtes Leben
Günther Grass hatte das Motiv eines nicht größer werdenden Kindes in den
Mittelpunkt seiner "Blechtrommel" und der umfassenden Betrachtung
verborgener Familienbeziehungen gestellt. Bei ihm hatte das Kind beschlossen,
nicht erwachsen zu werden. In Jennifer Haighs Roman sorgt eine Krankheit dafür,
dass die zunächst 13jährige Hauptfigur Gwen Mckotch eine vernichtende Aussicht
für ihr Leben erhält.
Gwen leidet an einer sehr speziellen Krankheit, deren Folge es ist, dass sie
für immer im Körper eines Kindes leben wird. Pubertät und Wachstum bleiben
aus.
Hier beginnt der erste Hauptstrang des Romans, die Entwicklung Gwens zwischen
Verzweiflung und Kampfeswille. Ungeheuer dicht in dennoch leichter und
flüssiger Sprache gelingt es Jennifer Haigh, diese innere Entwicklung mit all
ihren äußeren Hindernissen zu beschreiben. Selten gelingt es Autoren, ihren
Figuren ein solch intensives Leben einzuhauchen, wie es Jennifer Haigh (nicht
nur) in Bezug auf Gwen gelingt.
Innerlich tief mit hineingenommen verfolgt der Leser Seite für Seite und
Schritt für Schritt den Kampf Gwens um ihre Lebenschancen.
Eine mehrschichtige Schilderung, denn, auch dies ein Anklang an Günter Grass
Figur des David, der äußere Stillstand der körperlichen Entwicklung
korrespondiert mit der fast greifbaren Verweigerung der Mehrzahl der handelnden
Personen, ihren inneren Status quo zu verlassen. Auf ihre Art und Weise tragen
auch alle anderen Mitglieder der Familie Mckotch eine Form solcher
"Stillstand-Krankheit" in sich.
Hier setzt der zweite Hauptstrang des Romans an. Durch die Krankheit Gwens wird
jener Status quo, in dem sich jeder andere Teil die Familie innerlich
eingerichtet hat, erschüttert. Die Notwendigkeit, ein durchgeplantes und
starres Leben nun durchbrechen zu müssen, sich mit dieser massiven Krankheit
auseinandersetzen zu müssen, zu erleben, dass die perfekte Fassade nun
unrettbare Risse erhält, zerstört letztendlich das Ganze, auf Stillstand
ausgerichtete Beziehungsgeflecht.
Der ehrgeizige Wissenschaftler Frank, der sich als Vater dünn macht und sich in
seinem Labor vergräbt, die Mutter Paulette, die perfekte und überzeugte
Hausfrau, die Brüder Billy, Liebling der Familie (aber eine ganz andre
Ausrichtung als die des perfekten, amerikanischen Jungen in sich tragend) und
Scott, hyperaktiv und immer Aufmerksamkeit einfordernd erleben eine intensive
Störung ihrer jeweils eingenommenen und überaus gepflegten Rollen in der
Familie, die sie letztlich nicht verkraften.
Die Familie zerbricht, aber auch die Leben der einzelnen Protagonisten finden im
Folgenden keine wirkliche Erfüllung. Zu sehr verbleiben alle Beteiligten in
ihrer starren Innerlichkeit, die unglaublich prägnant und offenlegend von
Jennifer Haigh beschrieben wird.
Letztlich ist dies die Ursache all der Trennungen, die nicht vorhandene
Bereitschaft, sich selber in den Blick zu nehmen und aus den eigenen, starren
Rollen einen Ausweg zu finden.
Nur Gwen findet ihren Weg, öffnet sich für ihr Leben, entfaltet ihre Person
und findet die Chance einer echten Liebe. Eine nochmalige Erschütterung für
die anderen Familienangehörigen, denn dass gerade sie, die äußerlich im
Stillstand erstarrt, innerlich beginnt, zu wachsen, ist kaum zu verkraften für
die anderen. Doch eigentlich müssten ja auch sie nur "Auftauchen" aus
ihrer Erstarrung des Lebens.
Atmosphärisch dicht mit fast schmerzlich klar gezeichneten Figuren legt
Jennifer Haigh den Finger auf eine große Wunde des modernen Lebens. Das sich
erschöpfen in reinen Funktionen, die Abscheu fast, sich seiner selbst und
seiner Innenwelt zuzuwenden verdichtet sich in diesem Roman zu einem fast
universellen Bild der Angst vor der eigentliche Aufgabe des Lebens, der inneren
Entwicklung, Reifung und des inneren Wachstums. Perfekt wählt sie genau jene
Krankheit, die als bestes Symbol für diese Form inneren Erstarrung nun im Raume
steht und schildert die notwendige Voraussetzung, für ein echtes Wachstum,
innere und äußere Offenheit.
Wie ihre Protagonisten daran scheitern, wie Jennifer Haigh minutiös immer mit
Empathie und nie verurteilend offen legt, welche Entwicklungen im Leben der
Familienangehörigen, damit aber auch in unserer gegenwärtigen Welt, zu einer
solchen rein auf eine funktionale Oberfläche ausgerichteten Lebenshaltung
führen, dass lässt den Leser kaum mehr los und richtet den Blick fast
unvermeidlich auf die eigenen Haltungen und die eigenen Vermeidungen im Leben.
Fazit
Dass es Jennifer Heigh gelingt, dieses komplexe und leicht in Gefahr des
Niederdrückenden stehende Thema, in leichter, klarer Sprache und immer mit
Wärme den Figuren gegenüber in Szene zu setzen ist genau der Stil, den es
braucht, um den Roman zu einem echten, inneren Erlebnis zu gestalten. Ein ganz
hervorragendes Buch, dem es gelingt, eine echte, innere Bewegung beim Leser
auszulösen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 17. Juli 2010 2010-07-17 16:06:05