"Er wusste nicht, wie es passiert war - mangelnde Voraussicht seinerseits,
mangelndes Engagement, mangelnde Planung, mangelnde Rücklagen für schlechte
Zeiten -, aber in rascher Folge verlor er seinen Job, seine Freundin und das
Dach über dem Kopf, und eines Morgens erwachte er auf dem Gehsteig vor der
Post." ("Hier kommt")
Mit solch faszinierender Spannung, die auf das Porträt eines Verlierers
hinweist, kann der Leser rechnen, wenn er sich den vorliegenden Erzählband zur
Hand nimmt. Wer Boyle kennt, ist schon gespannt auf das Ende einer Geschichte,
bevor er sie überhaupt zu lesen begonnen hat, bevor er weiß, wovon sie
handelt. Mit diesem 2005 in den USA erschienenen Erzählband zeigt der Autor
einmal mehr seinen Spaß beim Feinschleifen seiner Sätze. Novellen,
Erzählungen und Kurzgeschichten haben auf der anderen Seite des Teiches einen
ganz anderen Stellenwert als in Deutschland, wo solche Schreibübungen lediglich
von preisgekrönten Schriftstellern geduldet werden. Für die Amerikaner
gehören solche kürzeren Geschichten ganz einfach zu jedem Autor. Boyle ist die
Lust am Gestalten dieser Geschichten anzumerken. Damit schafft er selbst in sehr
kurzen Geschichten eine solche Dichte an Umfeld und Geschehen, dass man das
Gefühl hat, trotzdem einen ganzen Roman gelesen zu haben. So ist es auch bei
den 14 Geschichten dieses Bandes. Bei "Windsbraut" entwickelt sich auf
einer stürmischen Insel eine romantische Liebesbeziehung zwischen einem eher
zurückgezogen lebenden Inselbewohner und einer amerikanischen Vogelkundlerin,
die von den Inselbewohnern nur die Frau mit den Vögeln oder die Vogelfrau
genannt wird. Sehr humorvoll wird eine Romanze aufgebaut, bis es schließlich in
einem Desaster endet. In "Der freundliche Mörder" geht es um einen
Rekordversuch im Wachsein eines Radiomoderators, bei dem er die Leute auf der
Straße durch ein Schaufenster zuschauen lässt. In "Chicxulub"
erfährt ein Ehepaar vom Unfall ihrer Tochter, auf dem Weg in die Klinik leiden
sie Qualen. Meteoriteneinschläge in Sibirien und in Mittelamerika demonstrieren
die Unabwendbarkeit mancher Ereignisse und erhöhen mit ihrer ständigen
Unterbrechung der laufenden Handlung die Spannung, die darin besteht, zu
erfahren, wie es der Tochter geht. "Hier kommt" erzählt die
Geschichte eines Mannes, der alles verloren hat und gerade auf der Straße wach
geworden ist. So langsam wird ihm bewusst, dass ihn der Alkohol im Griff hat,
weil alle seine Probleme verschwinden, sobald er etwas getrunken hat. Bis er
schließlich ein Verbrechen beobachtet. "Geblendet" spielt auf den
südamerikanischen Estancias, auf welcher sich ein Wissenschaftler an die
Untersuchung der UV-Strahlung macht. Doch so unaufhörlich er den Estancieros
von den negativen Auswirkungen der Strahlung auf Mensch und Tier predigt, so
unnachgiebig muss er von einer Estancia zur nächsten ziehen. "Gegen die
Wand" wird sprichwörtlich das Leben eines jungen Mannes gefahren, der sich
vor dem Vietnamkrieg drückt, vom Kiffen auf harte Drogen umsteigt und nichts
anderes als Rausch im Sinn hat, obwohl sich ihm Alternativen bieten.
Fingerübungen sind diese Geschichten vom amerikanischen Autor, der selbst einen
Großteil seiner Jugend als Hippie durchlebte, allemal. Dem Boyle-Leser wird die
eine oder andere Figur nicht ganz fremd vorkommen. So weisen die Inselbewohner
in "Windsbraut" eine gewisse Ähnlichkeit mit den kauzigen Einwohnern
des Alaska-Örtchens Boynton auf und von dem rauschbesessenen Typen in
"Gegen die Wand" gibt es in "Drop City" gleich eine ganze
Kommune. Die Geschichten gleichen Charakterstudien, die früher oder später den
Protagonisten und Antagonisten in seinen Romanen als Grundlage dienen. Die
behandelten Themen sind sehr vielschichtig und obwohl so manche von ihnen mit
einem Desaster endet, in welcher der Protagonist ein Chaos hinterlässt, sind
viele sehr humorvoll geschrieben und treiben dem Leser ein Schmunzeln oder gar
die Tränen ins Gesicht. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nicht alles
so ernst nehmen sollte, wie es am Ende aussieht.
Fazit
Boyle ist perfekt in der Lage, mit dem zwinkernden Auge und eine alle Sinne
ansprechende Weise seine Geschichten an die Leser zu bringen.
Vorgeschlagen von Detlef Knut
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veröffentlicht am 14. Juli 2010 2010-07-14 10:19:43