Ernüchternde Realität statt Fiktion
In den letzten Jahren sind mehr und mehr Fernsehserien und Filmproduktionen
entstanden, die sich das Ziel setzten, ein deutlich realeres Bild der
alltäglichen Kriminalarbeit zu zeigen, als es über Jahrzehnte in idealisierten
Serien oder Filmen üblich war.
Dennoch ist es etwas ganz anderes, wenn ein echter Insider aus seinem Alltag bei
der Mordkommission erzählt. Kann man sich bei fiktivem Stoff immer noch mit
einem leichten Schaudern zurücklehnen und Entspannung in dem Wissen finden,
dass das alles nur erfunden ist und von Schauspielern dargestellt wird (wobei
auch im fiktionalen Bereich schon manchmal massive Verwunderung auftaucht, was
sich Menschen alles an Grausamkeiten ausdenken können), so gelingt diese Form
rationalen Ausweichens im Angesicht der Realität natürlich nicht.
Richard Thiess, Leiter der fünften Mordkommission in München, erzählt auf den
knapp 240 dicht gefüllten Seiten seines Buches 28 reale Begebenheiten aus
seiner Arbeit bei der Mordkommission, ergänzt durch Erläuterungen seiner
eigenen Geschichte vom Kaufhausdetektiv zum stellvertretenden Leiter der
Münchner Mordkommission. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass hier
ausgewählte und besondere Fälle seiner Dienstzeit ihren Niederschlag finden
und der Alltag in der Mordkommission nicht immer in solch teilweise
spektakulärer Form stattfindet, hat er doch aus der gesamten Breite dessen, was
die seine Arbeit ausmacht, ernüchternde und teils durchaus erschreckende Fälle
ausgewählt.
In nüchterner Sprache, dennoch eindrücklich und flüssig lesbar geschildert,
führt er vor Augen, wozu Menschen (nicht nur in absoluten Ausnahmefällen)
fähig sind. Vom Kindesmissbrauch auf der Schultoilette über blutige
Kneipenschlägereien, bei denen Beteiligte jede Form der Beherrschung verlieren,
findet die Realität vor den Augen der Leserin statt. Grausam, der Sexualmord an
einer Rentnerin, unfassbar fast der tödliche Streit aufgrund einer, zwar
lästigen, aber kaum einen Mord verdienenden, Ruhestörung. Ebenso unglaublich
fast, dass ein Mann seine Ehefrau vor den Augen der Kinder ersticht und fast
noch eines der Kinder, das versucht, seine Mutter zu beschützen, ebenfalls
tötet.
Gerade die sachlich-nüchterne, beschreibende Sprache, die Richard Thiess als
Stil zu eigen ist, lässt die Schilderungen als noch deutlicheres Bild
alltäglicher Gewalt und geplanter Verbrechen in den Raum treten. Neben der
Wucht der eigentlichen Fälle ist das eigentlich hoch informative am Buch
allerdings die genaue Schilderung des Alltages und der gegenwärtigen
Arbeitsweise der ermittelnden Beamten. So erhält der Leser einen fundierten
Blick in die Strukturen einer Mordkommission und das so manches Mal nicht die
Fehler der Täter, sondern reines Glück zur Aufklärung eines Verbrechens
führt.
Fazit
Das Buch ist flüssig und kompetent geschrieben, enthält gut ausgewählte,
beispielhafte Geschichten, die sich mit der Darstellung moderner
Ermittlungsmethoden und persönlichen Reflektionen mischen und die Bestätigung,
dass es kein Vorurteil oder eine Fiktion ist, dass das Privatleben von
Kommissaren der Mordkommissionen unter besonders erschwerten Vorbedingungen
steht. Gewalt, Verbrechen, Grauen und das Unfassbare brauchen nicht den
nächsten Blockbuster aus Hollywood, es reicht ein Blick in die erweiterte
Nachbarschaft, das ist das erschreckende Résumé dieses informativen und
empfehlenswerten Buches.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 01. Juli 2010 2010-07-01 21:42:50