Sich verlieren und finden
Ob "Hingabe" der "beste Frauenthriller seit Jahren" ist, wie
ein niederländisches Internetportal vollmundig proklamiert, das mag
dahingestellt bleiben.
Das aber Esther Verhoef auf gut 400 Seiten in Form einer Ich Erzählung aus der
Perspektive der weiblichen Protagonistin Margot heraus eine von schleichender
Spannung geprägte Geschichte erzählt, in der nicht nur die Hauptperson,
sondern bis in die Nebenpersonen und die verschiedenen Orte der Handlung hinein
die Charaktere und Atmosphären differenziert gezeichnet und mit einer inneren
Entwicklung versehen sind, das ist schon nach den ersten Seiten deutlich
erkennbar.
Das Buch beginnt mit dem Mord an einer Frau, aus der Innensicht des Täters her
geschildert. Ein kluger Beginn, denn so setzt Ester Verhoef den Duktus einer
schleichenden Gefahr in den Raum, der durch den ein oder anderen Einschub eines
Blickes in den Kopf des Mörders an gegebener Stelle die Spannung erhält und
steigert, ohne auf Schock Effekte setzen zu müssen.
Die Geschichte selbst wird, bis auf die erwähnten Einschübe, vollständig aus
der Perspektive Margots erzählt. Frisch von ihrem untreuen Lebensgefährten
getrennt, kleinbürgerlich geprägt und bisher in ihrem dörflich strukturierten
Geburtsort lebend, beginnt sie durch eine zufällige Begegnung auf einem
Wochenendausflug nach London, das Leben von einer ganz anderen Seite mit dem
Kunstfotografen Leon zu entdecken. Eine Seite, die in ihr nicht nur ungeahnte
erotische Kräfte freisetzt (der Titel des Buches ist hier Programm der
absoluten Hingabe an einen zunächst erotisch übermächtig erscheinenden Mann).
Über die Entdeckung der mitreißenden und sie fast ganz beherrschenden
erotischen Kraft Leons hinaus beginnt sie, ihr ganzes, bisheriges, braves Leben
mehr und mehr hinter zu lassen sich und taucht ein in eine freier scheinende
Welt der Künstler und Freigeister. Bis mehr und mehr deutlich wird, dass hier
eine ganz andere, subtilere, dennoch aber massive Kontrolle über ihr Leben
droht, in den Raum zu treten. Und auch der Mörder nimmt sie als sein neues
Opfer ins Visier, denn er ist ganz in ihrer Nähe.
Sprachlich dicht und fließend geschrieben gelingt es Esther Verhoef, den Leser
tatsächlich in das Leben der handelnden Personen und der Orte eintauchen zu
lassen. Nicht konstruiert erscheint der Fluss der inneren Entwicklung, nicht nur
bei Margot. Die enge, dörflich geprägte, kleinbürgerliche Lebensweise der
Eltern und Familie Margots ist aus dem Leben gegriffen und in kleinen und
größeren Marotten wunderbar beobachtet und zutreffend geschildert. Jeder kennt
eine solch ältere Frau, die beständig emsig alle versorgt und das Heft dabei
fest in der Hand halten will, jeder kennt solche Ehemänner, die sich ganz in
ihrem, teils auch spleenigen Hobby, verlieren. Mit Liebe zum Detail sind die
Figuren gezeichnet, sei es im kleinbürgerlichen Rahmen, sei es in der
Künstlerszene mit all ihren ebenfalls vorhandenen, nur inhaltlich ganz anders
gelagerten, Zwängen und Ritualen.
Zur Höchstform schwingen sich die erzählerischen Möglichkeiten Esther
Verhoefs in den erotischen Sequenzen auf. Die innere Entfaltung der Hingabe
tritt plastisch in den Raum ohne in plakative, sexuelle Stereotype hinein
abzurutschen. Natürlich würde keine Frau offen zugeben, dass es sie innerlich
dazu drängt, zu einem fast besinnungslos begehrten Mann wörtlich verstanden
hin-kriechen zu wollen, aber gerade in der Schilderung dieser inneren Hingabe,
die alle bisherigen Grenzen eines eher prüden Lebens weit hinter sich lässt,
entfaltet sich im Lauf der Geschichte die innere Entwicklung Margots, die zu
überraschenden Wendungen auch in der Beziehung zu ihrem neuen Geliebten führen
wird.
So treibt die Geschichte fast unmerklich und dennoch mit immer vorhandener und
sich langsam steigernder Spannung dem Finale entgegen, das, wie sollte es anders
sein bei einem gut durchdachten und gut erzählten Thriller, eine völlig
unerwartete Auflösung bietet.
Fazit
Ein Buch, das zu Anfang lang, am Ende aber viel zu kurz wirkt und nicht umsonst
wochenlang auf der Bestsellerliste der Niederlande gestanden hat.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 09. Juni 2010 2010-06-09 22:31:17