Immer wenn Kate an ihre Kindheit in Hongkong dachte, zog die Fahrt mit der
Dschunke zu einen einsamen Strand wie ein alter Film vor ihren Augen vorbei und
sie erinnerte sich an das Schwimmen vom Boot aus. Kate und ihre ältere
Schwester Frankie leben mit ihrer Mutter zur Zeit des Vietnamkriegs in Hongkong;
der Vater der Kinder arbeitet als Kriegsberichterstatter für ein amerikanisches
Magazin. Während die Mutter der Schwestern sich in der Welt der Kunst vor der
Realität verschließt und ihrem Bild von sonntäglich gekleideten, perfekt
frisierten kleinen Mädchen nachhängt, werden ihre Tochter vom chinesischen
Kindermädchen Ah Bing erzogen. Ah Bing stammt aus der Volksrepublik China, alle
ihre Verwandten leben auf dem Festland. In den Erzählungen Ah Bings klingt die
Maozeit mit Hungersnöten und Angst vor der Gewalt der Roten Garden an. Weil
ihre Eltern zu viele Töchter durchfüttern mussten, war Ah Bing an eine andere
Familie gegeben worden, lief jedoch von dort fort. Die kleinen Mädchen aus
Amerika sind für Ah Bing gwai mui - weiße Geistermädchen. Hongkong ist in den
60er Jahren kein ungefährlicher Ort, die chinesische Miliz überschreitet die
Grenze bei der Verfolgung von vermeintlichen Staatsfeinden. Bei einer dieser
Aktionen geraten Kate und Frankie in eine gefährliche Situation, über die sie
mit niemandem zu sprechen wagen und die das Verhältnis der Schwestern
zueinander ein Leben lang prägen wird.
Kate erinnert sich an die ungewöhnliche Lärmempfindlichkeit ihres Vaters, wenn
er alle paar Wochen nach Hongkong zu Besuch kam. Er lag dann oft auf dem Boden
des Kinderzimmers und erzählte Geschichten von Mao, von Dschingis Khan oder
Marco Polo. Das Wort Danang, das in den Nachrichten immer wieder genannt wird,
klang damals für Kate wie ein verzauberter Ort aus einem Märchen. Erst aus
ihrer Perspektive als Erwachsene kann Kate die Nachrichten aus dem Vietnamkrieg
einordnen und erst heute wird ihr klar, warum der Vater seinen Töchtern oft so
unerreichbar schien. Damals ahnten die Töchter, dass sie Geschichten, die der
Vater ihnen nicht erzählte, erst aufspüren mussten. Wenn ein Vater seine
Töchter stärker liebte als das Land Vietnam, wäre er dann überhaupt in
Vietnam?, fragten sich die Mädchen. Die nachdenkliche Kate überlegte schon
damals, ob es nicht unfair sei, den Vater zu kritisieren.
Kates Mutter lebt in einer anderen Welt, in der keine toten Menschen aus der
Volksrepublik China Toten im Fluss treiben. Über den alltäglichen Schrecken,
den die Toten im Stadtbild verkörpern, wird nicht gesprochen, über den
Schrecken des Krieges schon gar nicht. Kate interpretiert das distanzierte
Verhalten ihrer Mutter, dass ihre Mutter sie nicht liebt. Man kann als Leser
nur schwer nachvollziehen, warum die Mutter der Mädchen ihr Leben in der
Sicherheit Hongkongs als schwerer empfand als das Leben ihres Mannes oder das
ihrer Kinder. Hätte eine so naiv wirkende Frau, die sich nicht dafür
interessiert, was ihre Kinder den Tag über tun, ihre Töchter zur damaligen
Zeit überhaupt beschützen können? Als die aufdringliche, fordernde Art der
heranwachsenden Frankie sich für alle deutlich wahrnehmbar zum Problem
entwickelt, wird die Unangepasste ins Internat geschickt, um mehr
"Struktur" zu erhalten, wie die Mutter es nennt. Nun sieht Kate sich
nicht nur von zwei abwesenden Eltern vernachlässigt, sie fühlt sich von ihrer
Schwester verraten. Wären sie zu zweit in Hongkong geblieben, hätten sie ihrer
Ansicht nach die schwere Zeit gemeinsam ertragen. Durch die Begegnung mit Lewis,
der für die Auflistung der Vietnam-Gefallenen zuständig war und traumatisiert
in die USA zurückgeschickt wurde, werden Jahre später Kates Erlebnisse in
Hongkong wieder lebendig.
Fazit
"Weisse Geister" wird alle Leser fesseln, die gern
Kindheitserinnerungen lesen. Alice Greenway berührt besonders damit, dass man
hinter ihrer kindlichen Erzählerin schon das sich entwickelnde Urteilsvermögen
der erwachsenen Kate spürt, die die Ereignisse zur Zeit des Vietnamkriegs nun
einordnen kann. Namen, mit denen Kate damals nicht verband, sind inzwischen
feste Begriffe der Zeitgeschichte geworden. Die erwachsene Kate hat erfahren,
wie Krieg und Traumatisierung auf Menschen wirken. Alice Greenway verbindet in
ihrem melancholischen Roman meisterhaft die oft ungläubig gestellte Frage,
warum Eltern über die Sorgen ihrer Kinder so wenig gewusst haben, mit einer
stimmungsvollen Schilderung des Alltags in Hongkong. Die Gerüche auf den
Märkten Hongkongs, das schmatzende Geräusch der Flipflops, das Klicken der
Mahjong-Steine werden in ihrem Buch lebendig.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 04. Juni 2010 2010-06-04 09:12:16