Schillers Schädel, Goethe und wir.
Leipzig 1980.
Caroline von Löschwitz lebt inmitten Ihrer Familie ein den Verhältnissen
entsprechend eingerichtetes Leben als Lehrerin. Klavier und Schiller, Schüler
und ihre lebenskluge Großmutter, die für Gemütszustände anfällige Mutter
und der etwas steife, ordentliche "Gelegenheitsgeliebte" Werner
begleiten ihr alltägliches Leben.
Da erhält die Mutter eine Einladung zur Schillerfeier nach Weimar. Einer ihrer
Vorfahren hatte 1883 den Schädel Schillers Vermessen und mit seiner
Expertenmeinung "Der Schädel ist nicht echt" für Furore gesorgt.
(Ein Befund, der durch neueste Untersuchungen verifiziert ist).
Durch einen Anfall wird es der Mutter unmöglich, zu fahren, an Ihrer Stelle
fährt Caroline nach Weimar. So sehr steigert sie sich dort in die Atmosphäre
der "Kassengruft", des Ortes von Schillers Begräbnis 1805 hinein,
dass sie in Ohnmacht fällt. Als sie erwacht ist sie der festen Überzeugung,
nicht mehr die 30jährige Caroline von Löschwitz zu sein, sondern Caroline
Schiller, die beim Tode Friedrichs Schillers 6jährige Tochter des Dramatikers
und Dichters.
Unter Begleitung durch den Arzt Joachim Friedmann erholt sie sich Schritt für
Schritt von ihrer Verwirrung. Ein gewichtiger Teil der Therapie ist die
intensive Zuwendung zur Geschichte um und nach Schillers Tod, vor allem im Blick
auf den ominösen, abgetrennten Schädel Schillers. Sie beginnt, die Ereignisse
des Jahres 1805 und der Folgejahre als Buch zu entwerfen und dringt auf diesem
Weg tiefer und tiefer in die Rätsel um das Geschehen ein.
Was hat Goethe, der Dichterfürst, Egomane und manische Sammler mit dem falschen
Schädel in der Fürstengruft zu tun?
Welche Irrfahrten haben Schädel und Skelett Schillers damals hinter sich
gebracht?
Ein inneres Abenteuer beginnt für Caroline, dem auch äußere
Lebensveränderungen folgen. Sie kommt ihrem Arzt näher, eine Liebe entwickelt
sich.
Wie aber wird Werner auf den neuen Mann in Carolines Leben reagieren?
Thomas Persdorf nimmt die neuesten Erkenntnisse zum falschen Schädel auf und
entspinnt daraus seine Geschichte vom verschwundenen Schädel, eingebettet in
das alltägliche Leben in Leipzig und Weimar des Jahres 1980 und der Krankheits-
und Liebesgeschichte Carolines.
Akribisch und umfassend beschreibend wendet er sich dem Geschehen um die Leiche
Schillers nach 1805 zu. Ebenso akribisch und gründlich stellt er breit angelegt
seine Protagonisten und den entsprechenden Lokalkolorit dar. Er lässt sich
Zeit, nicht nur beim Beginn des Buches.
Bis in die teils lautsprachlich gestalteten und im Kleinsten noch beschriebenen
Dialekte mancher Dialoge und persönlicher Eigenarten der handelnden Personen
entsteht ein klares Bild der beschriebenen Ereignisse, Lebensumstände und
herrschenden Atmosphäre.
Nicht nur im Blick auf die DDR im Leipzig des Jahres 1980, auch die Rückblicke
auf den Beginn des 19. Jahrhunderts mitsamt der Eigenarten im Leben und der
Sprache jener Zeit werden erschöpfend und detailreich nachvollzogen.
Diese Gründlichkeit ist einerseits die Stärke des Buches. Zeitgeschichte wie
die napoleonischen Kriege und Ihre Folgen, Eigenart und Charakter Goethes, das
Leben in der Künstlerhochburg Weimar werden mittels diesen Stils fassbar und
nachvollziehbar, ebenso, wie die Umstände der weitverflochtenen
Tauschgesellschaft in der ehemaligen DDR und der Prägung der in ihr lebenden
Menschen erlebbar im Buch ihren Niederschlag finden. Lehrreich, z.T. auch
belehrend, wird hier neuere und ältere Geschichte beschrieben.
Diese Gründlichkeit ist anderseits auch in Teilen eine Schwäche des Buches.
Wenig Raum für Fantasie bleibt, wenn alles bis ins Detail hinein erklärt und
erschöpfend beschrieben wird.
Ein wenig mehr Raum für ein eigenes Erleben und einen eigenen, inneren Weg
hätte durchaus dazu verholfen, ein lebendigeres Erleben des Buches in den Raum
zu stellen.
Raum für Fantasie, der interessanterweise durchaus dort entsteht, wo Erotisches
mitschwingt,
Fantasien sich in manchen Protagonisten drängend Bahn brechen. An solchen
Stellen, an denen das Buch den Leser durchaus mit hinein zu nehmen versteht, ist
ersichtlich, wie durch Andeutungen sofort Räume für Assoziationen und ein
Miterleben entsteht. Ein Miterleben, dass mancherorts weniger Raum zur
Entfaltung findet.
Fazit
Im Gesamten aber verbleibt der positive Eindruck einer detailgetreuen, in
flüssig und mit großem Wortschatz geschriebene Darstellung echten Lebens in
der Hauptgeschichte des Buches und eine umfassend recherchierte Betrachtung des
"Rätsels um Schillers Schädel" mit einigen durchaus neuen Impulsen
und überraschenden Wendungen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 02. Juni 2010 2010-06-02 16:07:29