Trauer und Suche
Laura Brodie, Professorin für Englisch, nimmt in ihrem ersten Roman ein Thema
auf, dass durchaus bekannt ist und über Jahrhunderte immer wieder seinen
Niederschlag in der Literatur fand: Der nach einem Unfall verschwundene und für
tot erachtete Ehemann, dessen Leiche aber nicht gefunden wird und der nun
beginnt im Verlauf des Buches mehr und mehr wieder aufzutauchen.
Wirklich aufzutauchen? Ist es real, dass Sarah, die Protagonistin des Buches,
überall wieder ihren David, den verschwundenen Ehemann sieht? Hirngespinste als
Ausbund ihrer tiefen Trauer? Halluzinationen bis dahin, dass er leibhaftig vor
der Haustür wieder steht und seiner trauernden Frau ein ganz anderes, neues
Leben vorschlägt, weg von all dem Gewohnten und hin zu einem zurückgezogenen
Leben in den Bergen. Warum erscheint David nur ihr?
Der Vorschlag Davids ist wie ein zugrunde liegendes Bild für den ganzen Roman.
Sarah kämpft gegen das Versinken in die Traurigkeit, den Rückzug von der
bisher gewohnten, lebendigen und frohen Welt. Ist da nicht der Vorschlag ihres
Mannes (oder der Einbildung Ihres Mannes) genau das, wonach es sie innerlich
zieht? Rückzug, Aufgeben, Aufhören, weg von allem und alleine hin zu ihm?
Als Gegenkräfte stehen die Freunde und Familie, allen voran ihr Schwager, im
Raum, die den Weg in ein neues, anderes, dennoch lohnenswertes Leben
unterstützen.
Welche der Kräfte gewinnt? In welche Richtung wird sich Sarah wenden? Ist David
tot oder nutzt er nur die Gelegenheit, seinem bisherigen Leben als Arzt zu
entfliehen?
Geschickt baut Laura Brodie ihre Geschichte auf, indem sie aus beiden
Perspektiven schreibt. Aus Sarahs, der Witwe und aus Davids, des Ehemannes.
Allerdings ist die Frage, ob David lebt oder nicht nur der Vordergrund des
Romans. Das eigentliche Thema stellt sich in der inneren Entwicklung Sarahs dar.
Durch das wieder Auftauchen Ihres Mannes kann sie nicht allein im Gefühl der
Trauer verbleiben, eine aktive Auseinandersetzung mit ihrem bisherigen Leben,
mit ihrer Ehe, mit ihren Werten, mit ihrer Sicht auf das, was nun vor ihr liegen
soll wird nötig und entsteht als eigentliche Geschichte des Romans. Virtuos
beschreibt Laura Brodie mit hoher Empathie die "Innenwelt" ihrer
Hauptdarstellerin.
Seite für Seite gelingt es ihr mit dieser emotionalen Nähe und, das vor allem,
mit ihrer Fähigkeit, diese "Innenwelt" der Trauer des Rückblickes
eindrücklich in Worte zu fassen, einfühlsam zu verdeutlichen, welche Wege der
Trauerverarbeitung zu einer neuen Freiheit führen. Ob am Ende des Buches David
wirklich gestorben ist oder noch lebt spielt in dieser Entwicklung dann nicht
mehr die entscheidende Rolle.
Hervorragend und lebensecht gestaltet sie die Dialoge des Buches, wesentliche
Momente der Verarbeitung der Situation und die Darstellung der
"Außenwelt", jener Kräfte, die neue Möglichkeiten in der Raum
setzen wollen.
Wie in den Dialogen ist der gesamte Sprachstil unaufdringlich fließend und
dient in bester Weise der Entfaltung der Geschichte.
Fazit
Einer intensive und wunderbar in Form und Inhalt gestaltete Geschichte, die
ihren Ursprung in der Dissertation Laura Brodies über "Witwen in der
Literatur" hat. Über den rein literarischen Bereich hinausgehend ist ihr
mit "Ich weiss, Du bist hier" ein Roman gelungen, der in seiner
präzisen Darstellung der Emotion und der inneren Entwicklung wichtige Hinweise
auf für das "wahre Leben" in sich trägt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 30. Mai 2010 2010-05-30 17:58:53