Sandor Marais "Glut" ist ein interessantes Buch. Es schildert die
Beziehung zwischen einem 75-jährigen General und seinem Freund, die sich 41
Jahre nicht gesehen haben. Eines Tages, nach einer Jagd, war der Freund, Konrad,
verschwunden.
Warum? Diese Frage quält den General, Hendrik, die ganzen Jahre? Hatte Konrad,
der Freund, eine Beziehung zu der Ehefrau des Generals, Kristina? Hängt damit
die Flucht des Jugendfreundes zusammen? Was ist auf dem letzten Zusammensein der
Freunde, auf der Jagd, passiert?
In einem nächtlichen Monolog gibt der General seine Version der Ereignisse ab -
und der Freund? Er schweigt.
Was als hervorragende Novelle im Stile Joseph Roths und Stefan Zweigs begann,
entpuppt sich als zeitloses Dokument über Freundschaft, Liebe und Verrat. Die
K.U.K.-Monarchie und ihr Verfall bildet den historischen Hintergrund dieses
Kurzromans, sie ist jedoch zum Verständnis der existentiellen Themen des Buches
nicht notwendig. Ein Werk für den Bücherschrank.
Ein Meisterwerk? - zumindest in seinem ersten Teil. Doch nach Tagen merkte ich,
dass mich etwas störte. Wie ein anderer Leser meiner Meinung nach zu Recht
anmerkte, verliert das Buch in seinem zweiten Teil an Faszination. Warum? Weil
sich der Freund nicht wehrt; er stimmt den Feststellungen Hendriks lediglich
kurz zu; zu einer Erklärung oder Aufklärung der Ereignisse kommt es nicht.
Zwei Interpretationsmöglichkeiten bieten sich hier an: entweder hat der General
die Beziehung der beiden Freunde so gut analysiert, dass nichts mehr
"offen" bleibt; dann wäre das Verhalten des Freundes verständlich.
Trotzdem ist die Affaire am Ende nicht aufgeklärt; es bleibt ein "offenes
Ende."
Daher glaube ich, dass Marai "die Geister, die er rief" nicht mehr
bändigen konnte; er wurde mit dem Stoff nicht fertig - und belässt es -
vielleicht entgegen seiner ursprünglichen Absicht - bei einem einseitigen,
durchaus interessanten, aber eben nicht befriedigenden Monolog des Gastgebers.
Zu dem von dem Leser erwarteten Dialog der beiden Protagonisten kommt es
nicht.
Wenn dies Marais Absicht war, hätte er die Begegnung der Protagonisten gar
nicht stattfinden lassen sollen. Es wäre meiner Meinung nach dann sinnvoller
gewesen, wenn die Ankunft Konrads durch einen Brief - den die alte Amme
(hervorragend gezeichnet) überreicht hätte - angekündigt worden wäre. Der
Brief hätte mit dem Hinweis, dass er lange in den Tropen war und nun seinen
Freund wiedersehen möchte, um die Geschehnisse der Vergangenheit mit diesem zu
besprechen, enden können.
Dann hätte sich der General in sein Zimmer zurückziehen und über die
Beziehung in der geschilderten Form nachdenken können; dies wäre - so empfinde
ich es - gut und realistisch gewesen. Als Spannungsbogen am Schluß hätte die
Amme die Ankunft des Freundes verkünden können, der in den Schloßhof
einbiegt, auch der Händedruck hätte erfolgen können.
In einer solchen Handlungsführung wären meiner Meinung nach keine Fragen
offengeblieben und das Werk in seiner Gesamtheit ein Meisterwerk gewesen. So
bleibt es - bei aller sprachlichen Kunst - unvollendet und - wie ein anderer
Leser an dieser Stelle sagte - nur in seinem ersten Teil meisterhaft.
Fazit
Trotzdem sehr lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 14. Juli 2003 2003-07-14 19:09:19