1980 identifizierte in Nantucket/Massachussetts ein Walfang-Experte ein bis
dahin wenig beachtetes Notizbuch aus der Zeit des frühen 19. Jahrhunderts als
das des jüngsten Mannschaftsmitglieds der Essex, Thomas Nickerson. Die
Erinnerungen des Obermaats Owen Chase an den Zusammenstoß des Walfängers Essex
mit einem Pottwal im Jahr 1820 hatten Herman Melville zu seinem Moby Dick
angeregt. Dass Chase starkes Interesse daran hatte, selbst in gutem Licht
dazustehen und mit seinen Aussagen seine weitere seemännische Karriere nicht zu
gefährden, war schon immer vermutet worden. Thomas Nickersons Notizen und seine
Zeichnungen werfen ein völlig neues Licht auf die damaligen Ereignisse. Der
Autor Nathaniel Philbrick, der auf Nantucket lebt und selbst Segler ist,
rekonstruiert aus den Aufzeichnungen beider Männer und weiteren
Zeitzeugen-Berichten den Untergang des Schiffs und die anschließende Odyssee
der Mannschaft. Philbrick schildert zunächst den Alltag auf der von Quäkern
bewohnten Walfänger-Insel Nantucket, das Ausrüsten eines Walfang-Schiffes und
die Modalitäten, nach denen Mannschaft und Kapitän am Gewinn beteiligt wurden.
Das Schicksal der Essex und seiner Mannschaft muss bereits vom Anheuern der
Mannschaft an unter einem unglücklichen Stern gestanden haben. Der 28-jährige
Kapitän Pollard hatte eine 22 Mann starke Mannschaft zu befehligen, von denen 7
"Grünlinge", absolute Anfänger an Bord eines Schiffes waren. Das
Verhältnis zwischen dem eher zurückhaltenden Pollard und seinem Obermaat, der
sich an Bord zum Leuteschinder entwickelte, führte nach dem Schiffbruch der
Essex zu mehreren für das Überleben der Mannschaft fatalen Entscheidungen. Die
überlebenden 20 Mann mussten sich zusammen mit dem geretteten Proviant auf drei
Walboote verteilen. Auf der unwirtlichen Insel Henderson kann die Mannschaft
kurzfristig ihre Wasservorräte auffüllen und mit Vögeln und Krebsen den
schlimmsten Hunger stillen. Schließlich steuern nur noch zwei Boote, eins unter
Pollards Führung und eines unter Chases Kommando gegen den Wind und gegen jede
Vernunft die 3000 Seemeilen entfernte lateinamerikanische Küste an. Monate
später werden, völlig entkräftetet und von der Sonne verbrannt, in beiden
Booten nur 5 überlebende Personen aufgefunden. Den Rettern wird bald klar,
dass die Geretteten vom Fleisch ihrer toten Kameraden gelebt und überlebt
haben.
Philbrick analysiert, wie spezifische Charakterzüge von Kapitän und Obermaat
zu tragischen Fehlentscheidungen und damit zum Tod so vieler Seeleute führten.
Er erläutert, warum ein Teil der Mannschaft zum Zeitpunkt des Schiffbruchs in
schlechterem Allgemeinzustand war als der Rest und von vornherein geringere
Überlebens-Chancen hatte. Mit großem Einfühlungsvermögen in die Wirkung der
traumatischen Erlebnisse auf die Schiffbrüchigen und mit Erkenntnissen der
Neuzeit über die Auswirkungen von Hunger und Durst entsteht so das Soziogramm
einer Gruppe, die an der Bewältigung einer lebensbedrohlichen Situation
scheiterte. Inzwischen sind weitere Zusammenstöße zwischen Walen und Schiffen
zur Zeit Philbricks belegt, das Motiv des "Wal-Angriffs" aus Moby Dick
hat demnach reale Vorbilder.
Fazit
Die psychologische Analyse der Vorfälle, die Vielfalt der genutzten Quellen,
Philbricks handwerkliche Sorgfalt (seine Anmerkungen umfassen allein 36 Seiten)
und seine spürbare Verbundenheit mit der Insel Nantucket machen Philbricks
Rekonstruktion der Ereignisse zu einer fesselnden Lektüre.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 22. Juni 2008 2008-06-22 16:23:21