Der Mensch ist anders und braucht anderes
Seit mehr als einem Jahrzehnt zeugen ernstzunehmende Untersuchungen von einer
sich potenzierenden Abnahme der Identifikation von Mitarbeitern mit dem
jeweiligen Arbeitgeber. Was Wunder zu Zeiten, in denen Entlassungen den
Aktienkurs nach oben treiben, Mitarbeiter nur mehr als "zu
minimierende" Kostenfaktoren gesehen werden. Zeitarbeitsverträge,
befristete Beschäftigungen im Blick nur noch auf konkrete Projekte und ein
ständiger Kostenoptimierungsdruck tun das ihre dazu, das eine Mitarbeiterkultur
sich in Auflösung befindlich zeigt und damit weitreichende Folgen für das
soziale Gefüge westlich geprägter Gesellschaften in sich tragen.
Warum aber läuft so vieles schief in den Unternehmen? Was sind die Gründe für
diese Betrachtung von Menschen und wie könnte es anders, besser gehen?
Die Leitidee des "lernenden Unternehmens", seit langen Jahren Kern von
Helmut Geiselharts Ansatz in seiner Trainings- und Beratungsarbeit im
Management, das seinen Niederschlag bereits in seinen Büchern über das
"Lernende Unternehmen" und "Das Managementmodell der
Jesuiten", schwingt auch auf den knapp 200 Seiten seines neuesten Buches
mit, findet hier aber seine Einbettung in einen umfassend aufgearbeiteten
philosophischen, psychologischen, soziologischen und neurologischen Rahmen.
Im Zentrum des Buches steht das "Menschenbild" und seine prägende
Bedeutung für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Handeln, sowie das
Selbstbild, das Menschen von sich in sich tragen. Wie und warum es sich zum
einen gegenwärtig vorfindet und wie und wo es sich verändern müsste für eine
konstruktive Zukunft, nicht nur im Blick auf das Arbeitsleben und die
Unternehmensführung, das ist das Grundthema des Buches.
Helmut Geisehart verweist in seinem Grundansatz darauf, dass wir alle von einem,
oft unbewussten, Menschenbild geprägt sind und mit diesem Menschenbild unsere
Lebens- und Arbeitswelt gestalten. In seiner Diagnose erhebt er als gegenwärtig
prägend ein, durch Regression der Autonomie, Abbruch von tradierten
Wertvorstellungen und eine Rückkehr zu nomadisierenden Lebensweisen
"beschädigtes" Menschenbild mit weitreichenden Folgen auch und gerade
im Blick auf Unternehmen. Schlicht und einfach weist er nach, dass
Bewertungskriterien von Unternehmen im Blick auf Effizienz, Flexibilität und
messbaren, "gläsernen" Kategorien grundlegend am Menschen vorbeigehen
und destruktive Auswirkungen nach sich ziehen, die wiederum zu Schieflagen durch
Einschränkungen, vermindertem Einfallsreichtum und fehlender Bindung im
Unternehmensprozess führen.
Vermittels der Neurologie, Soziologie und Psychologie entwirft Geiselhart
demgegenüber ein "gesundes" Menschenbild, das durch Lernfähigkeit,
Lernbegeisterung, Sinnsuche, Perspektiverneuerung im Rahmen des vorhandenen
Freiheitsspielraumes ebenso gekennzeichnet ist wie durch seine grundlegend
soziale Ausrichtung und seine Energiefülle.
Um dieses "neue" und doch "ganz alte" Menschenbild neu zu
entdecken und im Rahmen der modernen Lebens- und Arbeitswelt zu Tragen zu
bringen, bedarf es einer institutionellen Verankerung, auch und gerade in den
Unternehmen. Ein überaus einsichtiger Gedanke, wenn man sich vor Augen führt,
dass Werte und Ziele gerade durch Führung gesetzt und aufrecht erhalten
werden.
Die Methode und praktische Anleitungen für eine solche Verankerung schildert
Geiselhart im vorletzten Teil des Buches, vor allem im Blick auf andere Formen
in der Führung von Menschen, weg von der reinen pseudoobjektiven Beurteilung
hin zu einem systemischen Ansatz im "lernendem Unternehmen".
Wesentliche Kompetenzen für eine solche Führung sind die Fähigkeiten zur
Selbsterneuerung, beständigen Weiterbildung und Menschenkenntnis statt
Menschenbeurteilung durch fehlleitende Kategorien.
Mit einem Blick auf die eigenen Möglichkeiten, aber auch Notwendigkeiten, sich
zu erneuern und den deutlichen Hinweis auf eine Rückbesinnung auf die eigene
Kultur schließt Helmut Geiselhart seinen Aufruf zu einem "anderen
Menschenbild".
Die Argumentation im Buch ist durchgängig schlüssig und folgerichtig. In den
einzelnen, nie ausschweifenden, Kapiteln legt er überzeugend die Ursachen und,
vor allem, Folgen des "beschädigten" Menschenbildes der Gegenwart
dar. Hervorragend gelungen und wichtig vor allem im Blick darauf, dass das
vorherrschende Menschenbild oft nicht bewusst ist und gerade deshalb so massiv
die Strukturen beeinflusst. Mit diesem Ansatz ist auch erklärbar, warum viele
Managementtheorien der letzten Jahre sich als kurzlebig erwiesen haben.
Die Konstatierung des grundlegenden Verlustes langfristigen, nachhaltigen
Denkens und Wirtschaftens bietet einen überzeugenden Ansatz, gegenzusteuern,
indem man sich mit dem "neuen" Menschenbild konstruktiv auseinander
setzt und entsprechende Schlüsse für die Führung eines Unternehmens daraus
zieht. Gerade durch seine fundierte Betrachtung der Ursachen, die zum
gegenwärtig bestimmenden "beschädigtem" Menschenbild geführt haben,
werden Alternativen bewusst, die durchaus praktikabel sind. Auch dies ein Plus
des Buches, Geiselhart verbleibt nicht in der klagenden Analyse, sondern bietet
praxisorientierte Auswege. Dass eine weiterbildende Arbeit an biblischen Texten
nicht jedermanns Sache sein könnten, ist ein zu verschmerzendes Manko. Andere,
hier und da passendere, Formen und Methoden der selbsterneuernden Weiterbildung
sind durchaus vorstellbar und können auf der Basis des Buches entwickelt
werden.
Gerade angesichts der jüngsten Auswüchse und Krisen in Finanz- und
Realwirtschaft erhält das 2008 erschienen Buch noch einmal eine ganz neue
Aktualität. Warum so vieles nicht mehr funktioniert im Wirtschaften, warum
mittlerweile die ganze Gesellschaft in Geiselhaft für die seelenlose
Profitoptimierung genommen wird, das sind drängende Fragen, denen sich Helmut
Geiselhart umfassend widmet und die er einer möglichen Lösung zuführt.
Fazit
Eine anregende und zur Veränderung motivierende Betrachtung des gegenwärtigen,
umfassend prägenden Menschenbildes und seiner destruktiven Auswirkung auf
Wirtschaft und Gesellschaft. Eingängig und überzeugend geschrieben mit einer
breiten Grundlage aktueller, wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Vorgeschlagen von Lesefreund
[Profil]
veröffentlicht am 17. Mai 2010 2010-05-17 00:27:06