Hildegard entstammt einer typischen rheinischen Arbeiterfamilie. Was das in den
50er Jahren des letzten Jahrhunderts bedeutet, wird dem Leser schnell klar. Wenn
man heute von "Standesdünkel" spricht, meint man fast immer die
Reichen und Vornehmen, die auf die unter ihnen stehenden herunterschauen.
Standesdünkel haben in dieser Zeit aber auch die unteren Schichten geprägt:
Die Schranken, innerhalb deren man lebte, wurden erbittert verteidigt. Wehe,
wenn eine Tochter auf einmal völlig unverständlichen Bildungshunger verspürt!
Das muss ihr mit allen Mitteln ausgetrieben werden. Da können Lehrer und
Pfarrer sich noch so sehr bemühen!
Sehr einfühlsam und mit gewaltiger sprachlicher Kraft schildert Ulla Hahn, wie
Hildegard durch Bücher eine andere Welt kennenlernt. Und auch, wie das Lesen
der Bücher ihr erst ermöglicht, eine andere gesellschaftliche Schicht zu
erklimmen. Tatsächlich hat ihr Vater, der sich wehemennt gegen die Wißbegier
seiner Tochter stellt, am Ende auch recht: Indem sie eine andere Welt
kennenlernt, fühlt sie sich in der Welt, in die sie hineingeboren wurde nicht
mehr wohl.
Es ist also nicht nur positiv, was man erlebt, wenn man liest. Durch das mehr an
Wissen entstehen auch Zwiespalte, die man ohne dieses Wissen nicht gehabt
hätte.
Fazit
Dieses Buch ist im Moment mein absolutes Lieblingsbuch: Lange habe ich keinen
Autoren mehr gelesen, der über ein derartig gewaltiges sprachliches Potenzial
verfügt. Vielleicht liegt es daran, dass Ulla Hahn sonst eher Gedichte
schreibt, dass sie derart sorgfälig jeden einzelnen Satz zu durchdenken
scheint.
So wie sich Hildegard sprachlich weiterentwickelt, entwickelt sich auch die
Sprache weiter.
Vorgeschlagen von Heike Heard
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veröffentlicht am 09. Mai 2010 2010-05-09 19:07:59