Meryem ist Gefangene im Haus ihres Onkels; denn sie hat Schande über die
Familie gebracht. In Meryems Alpträumen verbinden sich Legenden, die ihre
Großmutter erzählte, mit der Gewalt, die ihr der Onkel angetan hat. Nicht der
Onkel als Familienoberhaupt hat durch die Vergewaltigung seiner Nichte Schande
über sich gebracht, Meryem hat seiner Ansicht nach ihr Leben verwirkt. Als
angesehener Angehöriger eines Derwisch-Ordens und geistliches Oberhaupt legt
der Onkel für die Dorfbewohner den Koran aus. Dass alle Dorfbewohner dem Herrn
und Grundbesitzer gehorchen, ist eine Selbstverständlichkeit; Frauen betrachtet
der Patriarch als schlimme Sünderinnen, allein zum Dienen geboren. In Meryems
Dorf nahe der irakischen Grenze sprechen Frauen nicht in Anwesenheit von
Männern und haben sich von männlichen Besuchern fernzuhalten. Meryem, die in
den Augen der Dorfbewohner Schande über die Familie brachte und damit ihr Leben
verwirkte, hat nun die Wahl, sich das Leben zu nehmen oder für immer "nach
Istanbul gebracht" zu werden. Kaum jemand hat eine Vorstellung davon, dass
eine Reise in die türkische Metropole mehr als 1000km lang sein wird; denn aus
Istanbul ist noch niemand wieder ins Dorf zurückgekehrt
Cemal, Meryems Cousin, hat gerade seinen Militärdienst im Kampfgebiet zwischen
PKK und türkischer Armee geleistet. Rückblenden illustrieren den harten Dienst
der türkischen Soldaten in Kälte und Schneesturm, ihren Kampf um jeden
einzelnen Hügel unter ständigem Beschuss des Gegners. Selbst hier, fern von
der Familie, gehorchte Cemal wie ein Automat seinem furchteinflößenden Vater -
Meryems Onkel. Nach seiner Rückkehr vom Militär sieht Cemal sich noch immer
als Soldat; der Tod ist für ihn alltäglich geworden. Weil "alle hinter
unserem Rücken über uns reden" soll Cemal im Auftrag seines Vaters
Meryem "nach Istanbul bringen". d. h., er wirdl sie dort töten.
Cousin und Cousine machen sich auf die lange Reise mit Bahn, Bus und Fähre bis
sie schließlich beim älteren Bruder Yakup in Istanbul ankommen. Yakup ist
einer derjenigen, die in die Stadt gingen und nie mehr in ihr Heimatdorf
zurückkehrten. Die Vorstellungen seiner Familie von Ehre und Schande liegen
Yakup fern. Er ist mit seinem eigenen Leben in einer erbärmlichen
Behelfssiedlung vollauf beschäftigt und äußert sich zu Cemals Plänen nur
zurückhaltend.
Ein dritter Handlungsstrang folgt Irfan Kurudal, einem türkischen Professor,
der in einer Sinnkrise spontan Frau und Arbeitsplatz verlässt, um wochenlang
allein in der Ägäis zu segeln. Auf der Flucht vor seiner kriselnden Ehe und
der Last des Alltags sinnt Kurudal über das Verhältnis der Türkei zur
westlichen Welt nach. So lange Kurudal zurückdenken kann, hatte er sich als
Türke aus der durch die lateinische und altgriechische Sprache geprägten Welt
der Wissenschaften ausgeschlossen gefühlt. Auf Kongressen fühlte der nicht
sehr religiös erzogene Kurukal sich stets in eine Außenseiterrolle gedrängt.
Seine vom Islam geprägte Kultur wurde ihm erst im Ausland bewusst, wenn
Nicht-Muslime ihn automatisch als Muslim betrachteten.
Der Leser ahnt schon früh, dass sich die Wege dieser drei Personen kreuzen
werden, die an einem entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben stehen. In einem
spannenden, märchenhaften Finale stehen sich schließlich Vertreter
konservativer wie pro-westlicher Ansichten in der Türkei bei der Suche nach
etwas Glückseligkeit gegenüber.
Livaneli vermittelt meisterhaft Einblick in dörfliche Strukturen, in denen
unter dem Vorwand der Ehre (Eltern wollen nicht, dass ihre Tochter mit Jungen
in einem Klassenzimmer unterrichtet wird) Frauen ungebildet und abhängig
gehalten werden. Die dörfliche Idylle mit frei laufenden Hühnern und
Pferdefuhrwerken kontrastiert mit dem Grauen, das Meryem in der Familie erlebt.
Das Einsperren im Haus kann Mädchen nicht vor der Gewalt innerhalb ihrer
Familie schützen. Meryem schweigt konsequent über den Täter, so dass selbst
die Frauen, die das Mädchen für unschuldig halten, nicht offen für sie zu
sprechen wagen. Die Stiefmutter verfolgt Meryems Schicksal mit kaum verborgener
Schadenfreude. Sie würde sich der Stieftochter gern entledigen. Vom Vater hört
man kein Wort; allein der Onkel entscheidet über Meryems Schicksal. Die
Ehrerbietung, die das Familienoberhaupt beansprucht, wird von niemandem infrage
gestellt, obwohl Andeutungen hoffen lassen, dass die Dorfbewohner gern die alten
feudalistischen Sitten ablegen würden. Cemal nennt seine Cousine niemals beim
Namen, er bezeichnet sie als "das Mädchen", will in ihr eine Fremde
sehen. Ein schweigender Vater, der die Allmacht des Patriarchen hinnimmt, ein
wortloser Cousin, Mütter, die diese Männer erzogen haben - es fällt schwer,
Mitgefühl für die schweigende Masse in Mryems Heimatort zu empfinden. Der
Blick auf uns völlig unverständliche Sitten wird durch Kurudals Perspektive
noch verstärkt, der aus einer völlig anderen, städtischen Welt stammt. Der
Professor hat vermutlich noch nie jemanden wie Meryem getroffen, über deren
Körper und Leben ein Familienoberhaupt verfügt wie über einen Gegenstand.
"Nichts steht im Koran darüber, dass Frauen getötet werden sollen, die
gesündigt haben", es ist immer eine Sünde zu töten, stellt Selahattin
entschieden fest, mit dem Cemal gemeinsam beim Militär war. Cemal und
Selahattin, die ehemaligen Soldaten, Meryem und Seher, das Mädchen vom Dorf und
die Alevitin aus der Stadt - immer wieder stehen sich Stadt und Land, weltliche
und religiöse Vertreter der heutigen Türkei in Livanelis Roman gegenüber.
Fazit
Der als "Mutluluk" 2002 in der Türkei erschienene und 2007 verfilmte
Roman vermittelt Einsicht in uns unbegreifliche dörfliche Strukturen
Anatoliens, mit denen wir hier in Deutschland anlässlich spektakulärer Morde
an jungen türkisch-stämmigen Frauen konfrontiert werden. Livaneli rührt
seine Leser mit Meryems Schicksal zutiefst an und vermittelt zugleich Einsicht
in Cemals Situation, der ebenfalls für eine uns unverständliche Ehre geopfert
wird. Einzig Irfan, der Intellektuelle aus der Stadt, blieb mir in der von ihm
erlebten Krise sehr fremd.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 06. April 2010 2010-04-06 18:30:39