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Zülfü Livaneli: Glückseligkeit

Glückseligkeit

von Zülfü Livaneli
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-499-25358-4

Preis: 2,45 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
Meryem ist Gefangene im Haus ihres Onkels; denn sie hat Schande über die Familie gebracht. In Meryems Alpträumen verbinden sich Legenden, die ihre Großmutter erzählte, mit der Gewalt, die ihr der Onkel angetan hat. Nicht der Onkel als Familienoberhaupt hat durch die Vergewaltigung seiner Nichte Schande über sich gebracht, Meryem hat seiner Ansicht nach ihr Leben verwirkt. Als angesehener Angehöriger eines Derwisch-Ordens und geistliches Oberhaupt legt der Onkel für die Dorfbewohner den Koran aus. Dass alle Dorfbewohner dem Herrn und Grundbesitzer gehorchen, ist eine Selbstverständlichkeit; Frauen betrachtet der Patriarch als schlimme Sünderinnen, allein zum Dienen geboren. In Meryems Dorf nahe der irakischen Grenze sprechen Frauen nicht in Anwesenheit von Männern und haben sich von männlichen Besuchern fernzuhalten. Meryem, die in den Augen der Dorfbewohner Schande über die Familie brachte und damit ihr Leben verwirkte, hat nun die Wahl, sich das Leben zu nehmen oder für immer "nach Istanbul gebracht" zu werden. Kaum jemand hat eine Vorstellung davon, dass eine Reise in die türkische Metropole mehr als 1000km lang sein wird; denn aus Istanbul ist noch niemand wieder ins Dorf zurückgekehrt

Cemal, Meryems Cousin, hat gerade seinen Militärdienst im Kampfgebiet zwischen PKK und türkischer Armee geleistet. Rückblenden illustrieren den harten Dienst der türkischen Soldaten in Kälte und Schneesturm, ihren Kampf um jeden einzelnen Hügel unter ständigem Beschuss des Gegners. Selbst hier, fern von der Familie, gehorchte Cemal wie ein Automat seinem furchteinflößenden Vater - Meryems Onkel. Nach seiner Rückkehr vom Militär sieht Cemal sich noch immer als Soldat; der Tod ist für ihn alltäglich geworden. Weil "alle hinter unserem Rücken über uns reden" soll Cemal im Auftrag seines Vaters Meryem "nach Istanbul bringen". d. h., er wirdl sie dort töten. Cousin und Cousine machen sich auf die lange Reise mit Bahn, Bus und Fähre bis sie schließlich beim älteren Bruder Yakup in Istanbul ankommen. Yakup ist einer derjenigen, die in die Stadt gingen und nie mehr in ihr Heimatdorf zurückkehrten. Die Vorstellungen seiner Familie von Ehre und Schande liegen Yakup fern. Er ist mit seinem eigenen Leben in einer erbärmlichen Behelfssiedlung vollauf beschäftigt und äußert sich zu Cemals Plänen nur zurückhaltend.

Ein dritter Handlungsstrang folgt Irfan Kurudal, einem türkischen Professor, der in einer Sinnkrise spontan Frau und Arbeitsplatz verlässt, um wochenlang allein in der Ägäis zu segeln. Auf der Flucht vor seiner kriselnden Ehe und der Last des Alltags sinnt Kurudal über das Verhältnis der Türkei zur westlichen Welt nach. So lange Kurudal zurückdenken kann, hatte er sich als Türke aus der durch die lateinische und altgriechische Sprache geprägten Welt der Wissenschaften ausgeschlossen gefühlt. Auf Kongressen fühlte der nicht sehr religiös erzogene Kurukal sich stets in eine Außenseiterrolle gedrängt. Seine vom Islam geprägte Kultur wurde ihm erst im Ausland bewusst, wenn Nicht-Muslime ihn automatisch als Muslim betrachteten.

Der Leser ahnt schon früh, dass sich die Wege dieser drei Personen kreuzen werden, die an einem entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben stehen. In einem spannenden, märchenhaften Finale stehen sich schließlich Vertreter konservativer wie pro-westlicher Ansichten in der Türkei bei der Suche nach etwas Glückseligkeit gegenüber.

Livaneli vermittelt meisterhaft Einblick in dörfliche Strukturen, in denen unter dem Vorwand der Ehre (Eltern wollen nicht, dass ihre Tochter mit Jungen in einem Klassenzimmer unterrichtet wird) Frauen ungebildet und abhängig gehalten werden. Die dörfliche Idylle mit frei laufenden Hühnern und Pferdefuhrwerken kontrastiert mit dem Grauen, das Meryem in der Familie erlebt. Das Einsperren im Haus kann Mädchen nicht vor der Gewalt innerhalb ihrer Familie schützen. Meryem schweigt konsequent über den Täter, so dass selbst die Frauen, die das Mädchen für unschuldig halten, nicht offen für sie zu sprechen wagen. Die Stiefmutter verfolgt Meryems Schicksal mit kaum verborgener Schadenfreude. Sie würde sich der Stieftochter gern entledigen. Vom Vater hört man kein Wort; allein der Onkel entscheidet über Meryems Schicksal. Die Ehrerbietung, die das Familienoberhaupt beansprucht, wird von niemandem infrage gestellt, obwohl Andeutungen hoffen lassen, dass die Dorfbewohner gern die alten feudalistischen Sitten ablegen würden. Cemal nennt seine Cousine niemals beim Namen, er bezeichnet sie als "das Mädchen", will in ihr eine Fremde sehen. Ein schweigender Vater, der die Allmacht des Patriarchen hinnimmt, ein wortloser Cousin, Mütter, die diese Männer erzogen haben - es fällt schwer, Mitgefühl für die schweigende Masse in Mryems Heimatort zu empfinden. Der Blick auf uns völlig unverständliche Sitten wird durch Kurudals Perspektive noch verstärkt, der aus einer völlig anderen, städtischen Welt stammt. Der Professor hat vermutlich noch nie jemanden wie Meryem getroffen, über deren Körper und Leben ein Familienoberhaupt verfügt wie über einen Gegenstand. "Nichts steht im Koran darüber, dass Frauen getötet werden sollen, die gesündigt haben", es ist immer eine Sünde zu töten, stellt Selahattin entschieden fest, mit dem Cemal gemeinsam beim Militär war. Cemal und Selahattin, die ehemaligen Soldaten, Meryem und Seher, das Mädchen vom Dorf und die Alevitin aus der Stadt - immer wieder stehen sich Stadt und Land, weltliche und religiöse Vertreter der heutigen Türkei in Livanelis Roman gegenüber.
Fazit
Der als "Mutluluk" 2002 in der Türkei erschienene und 2007 verfilmte Roman vermittelt Einsicht in uns unbegreifliche dörfliche Strukturen Anatoliens, mit denen wir hier in Deutschland anlässlich spektakulärer Morde an jungen türkisch-stämmigen Frauen konfrontiert werden. Livaneli rührt seine Leser mit Meryems Schicksal zutiefst an und vermittelt zugleich Einsicht in Cemals Situation, der ebenfalls für eine uns unverständliche Ehre geopfert wird. Einzig Irfan, der Intellektuelle aus der Stadt, blieb mir in der von ihm erlebten Krise sehr fremd.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 06. April 2010

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