Der 17-jährige Marcus Yallow aus San Francisco ist Spezialist für das
Austricksen der Überwachungsmaßnahmen an seiner Schule. Kostenlose Laptops
für alle Schüler, mit denen die Schulleitung jede Aktivität nachvollziehen
kann, oder die Gangerkennungs-Kameras für die Zugangskontrolle, Markus ist es
bisher stets gelungen, seine Privatsphäre vor staatlicher Kontrolle zu
schützen. WindowsVista4Schools lässt Rektoren die Illusion, sie hätten die
Kontrolle, lästern Marcus und seine Mitspieler bei HarajukuFunMadness, einem
Alternate Reality Game. Obwohl sie jederzeit damit rechnen müssen, in einem
Moblog als Schulschwänzer denunziert zu werden, verlässt Marcus mit seinen
Freunden Darryl und Vanessa den Unterricht. In der Stadt werden Marcus und
Vanessa von einem Militärkommando im Auftrag des DHS (Department of Homeland
Security) verhaftet und aus der Stadt gebracht; ihren verletzten Freund Darryl
verlieren die beiden aus den Augen. Die Jugendlichen wissen zu diesem Zeitpunkt
nicht, dass sie als Verdächtige verhaftet wurden, weil in unmittelbarer Nähe
Terroristen einen Anschlag auf die Bay Bridge und einen Eisenbahntunnel unter
der Bucht verübt haben. Die amerikanische Heimatschutzbehörde betrachtet
jeden, der in der Nähe des Tatorts aufgegriffen wurde, als feindlichen
Kämpfer. Marcus Aktivitäten in Chats und Foren könnten ihn in einem Staat,
der die Aktivitäten seiner Bürger mit Hilfe der RFID-Chip-Technologie rund um
die Uhr überwacht, zum Staatsfeind machen. Er fürchtet lebenslang weggesperrt
zu werden, wenn das DHS den geforderten Zugang zu den Daten auf seinem Handy
erhält.
Die Jugendlichen werden entwürdigend behandelt, sie wissen nicht, wo sie
überhaupt sind, die Eltern müssen mehrere Tage lang befürchten, ihre Kinder
seien Opfer des Terroranschlags geworden. Wer wie ein Terrorist behandelt wird,
dem fällt es leicht, wie ein Terrorist zu denken. Als Marcus endlich aus der
Haft entlassen wird, ist er noch immer ahnungslos, ob der verletzte Darryl
überlebt hat. Marcus erklärt dem Überwachungsstaat den Krieg, entschlossen,
für seine Würde und das Recht auf seine Privatsphäre zu kämpfen. Mit Hilfe
einer Sonderedition der XBox gründet Marcus ein "sauberes"
Kommunikationsnetz für vertrauenswürdige, persönlich bekannte
Kontaktpersonen. Obwohl jeder seiner Schritte bei der Nutzung öffentlicher
Verkehrsmittel vom DHS aufgezeichnet wird, gelingt Marcus die Gründung einer
subversiven Zelle. Im Sozialkunde-Unterricht stellt Marcus die entscheidende
Frage: Warum muss in den USA ein Unschuldiger beweisen, dass er kein Terrorist
ist? Während die jugendlichen Helden entschlossen sind, für den Erhalt ihrer
verfassungsmäßigen Rechte mit allen Mitteln zu kämpfen, hängt Marcus Vater
noch der Illusion an, ein Unschuldiger hätte von den verordneten
Überwachungsmaßnahmen nichts zu befürchten. Inzwischen haben die Zerstörung
der wichtigsten Verkehrsverbindung und die Fahndung nach den Tätern das
öffentliche Leben in San Francisco völlig lahmgelegt. Trotz seiner
trickreichen Schutzmaßnahmen muss unser Kämpfer für die bürgerlichen Rechte
bei jeder Online-Aktivität damit rechnen, dass ihm das DHS auf der Spur ist.
Für seinen Krieg gegen den Überwachungsstaat nutzt Marcus Abläufe aus Live
Rollenspielen (LARP) und Erfahrungen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
Dass ein Jugendlicher ausgerechnet aus der Geschichte der amerikanischen
Protestbewegung für seine Aktionen lernt, wirkt wenig glaubwürdig. Mit Hilfe
einer unabhängigen Journalistin inszenieren die X-Netler schließlich die
Bloßstellung der USA als Unrechtsstaat vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Als Computer-Nerd kann Marcus ohne Punkt und Komma über Kryptografie oder die
mathematischen Grundlagen seiner Ideen erzählen. Seine altklugen Exkurse
liefern das nötige Hintergrundwissen zu Sicherheitssystemen und ihren
Schwächen.
Fazit
In "Little Brother" lässt der 1971 geborene Kanadier Cory Doctorow
einen amerikanischen Bundesstaat die Bürgerrechte außer Kraft setzen, um
vermeintlichen Staatsfeinden auf die Spur zu kommen. Eine Verbindung zwischen
den verhafteten jugendlichen Computer-Nerds und dem Terroranschlag auf das
Verkehrssystem der Stadt San Francicso können die Behörden nicht belegen; die
Verdächtigen sollen stattdessen ihre Unschuld beweisen. Sehr überzeugend
schildert der Autor, wie sich ein 17-jähriger Schüler mit einem Händchen für
IT erst durch die entwürdigende Behandlung bei seiner Verhaftung zum
Staatsfeind wandelt. Als erwachsene Leserin fand ich ungeheuer beklemmend, wie
vorgebliche Sicherheitsmaßnahmen und das Aussetzen der Bürgerrechte durch eine
"Heimatschutzbehörde" zum Zusammenbrechen des öffentlichen Lebens
führen können. Doctorows spannender utopischer Roman kann als Kritik an
überzogenen staatlichen Überwachungsmaßnahmen gelesen werden und als
deutliche Mahnung, mit persönlichen Daten in sozialen Netzwerken überlegt
umzugehen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 25. März 2010 2010-03-25 10:13:04