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Jhumpa Lahiri: Fremde Erde

Fremde Erde

von Jhumpa Lahiri (Biografie)
Verlag: Rowohlt Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-499-24839-9

Preis: 12,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
In der Titelgeschichte "Fremde Erde" ist die 36-jährige Runa mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn von der amerikanischen Ostküste nach Seattle gezogen. Runa fühlt sich noch fremd, verbringt die meiste Zeit allein mit dem Kind zu Hause; ihr Mann Adam ist oft aus beruflichen Gründen unterwegs. Runas verwitweter Vater hat sich zu seinem ersten Besuch am neuen Wohnort des jungen Paares angekündigt. In einer bengalischen Familie würde von Runa erwartet, dass sie ihren Vater bei sich aufnimmt. Runas Denken kreist darum, ob er sie darum bitten wird, bei ihr und Adam wohnen zu dürfen, und wie sie darauf reagieren soll. Runas Vater hat nach dem Tod seiner Frau inzwischen inneren Frieden gefunden. Er fühlt sich befreit von der Verantwortung für eine vierköpfige Familie und ausgefüllt von seiner politischen Arbeit. Auf einer Reise lernte er eine verwitwete Frau aus Bengalen kennen. Mrs. Bagchi weiß, was sie will; sie möchte sich nicht noch einmal auf einen Mann einstellen müssen. Der alte Herr ist in Gedanken damit beschäftigt, wie er seiner Tochter von Mrs. Bagchi erzählen kann. Auch er möchte gern seine Unabhängigkeit behalten und fürchtet, seine Tochter damit zu verletzen. Großvater und Enkel verleben ein paar intensive Tage miteinander beim Neuanlegen des Gartens. Die Gartenarbeit und das Verhältnis des Vaters zu diesem Garten spiegeln die Gedanken, die er sich über seine Tochter macht. Er möchte Runa gern glücklich sehen, stellt sich darunter beruflichen Erfolg und finanzielle Unabhängigkeit für sie vor. Runa wollte immer ein anderes Leben führen als ihre Mutter - und lebt trotz beruflicher Qualifikation zur Zeit das traditionelle Leben einer bengalischen Einwanderin als Hausfrau und Mutter. Dass die jungen Leute den liebevoll angelegten Garten vermutlich verwildern lassen werden, wenn der Gärtner wieder abgereist ist, zeigt in den Augen des Vaters ihre Unselbstständigkeit. Vater und Tochter können ihre Sorgen um den anderen nur schwer in Worte fassen; beide sind äußerlich integriert und dennoch gefangen in den Normen der bengalischen Einwanderer. - Das bengalische Erbe spielt in Runas Geschichte im Gegensatz zu Lahiris frühen Geschichten nur noch eine Nebenrolle. Mit der Sorge um den alternden Vater, der ersten Trennung von Mutter und Sohn und Runas bisher unausgesprochenen persönlichen Glücksvorstellungen behandelt die Autorin universelle Fragen, die in jeder Kultur zu finden sind.

Die siebenjährige Usha treffen wir in der Geschichte "Wie Himmel und Hölle" mit dem von Lahiri gewohnten Motiv des "Onkels" aus Bengalen, eines unverheirateten Mannes, der von einer in den USA lebenden bengalischen Familie zum Essen eingeladen wird. Usha beobachtet belustigt, wie ihre Mutter darin aufgeht, den Nenn-Onkel mit Köstlichkeiten aus ihrer gemeinsamen Heimat zu bekochen. Mutter und Besucher fühlen sich einander verbunden, weil beide aus Kalkutta stammen. Als der Onkel seine amerikanische Freundin Deborah vorstellt, ahnt Usha, dass es deshalb in der abgeschlossenen bengalischen Gemeinschaft Ärger gegen wird. Usha erkennt nun die Bedeutung hinter der Bemerkung, "ihre Ehe wurde arrangiert". Sie hatte den Ausruck von den Erwachsenen übernommen, ohne ihn zu verstehen und ohne zu ahnen, wie gnadenlos bengalische Frauen urteilen, wen sie als Partnerin für einen Mann aus ihrer Gemeinschaft für passend halten. Usha liebt Deborah wie eine gleichaltrige Freundin, sie ist offenbar Deborahs einzige Vernündete. Ushas Mutter nimmt die neue Freundin, die sie für das personifizierte Böse hält, zum Anlass, ihre bald 13-jährige Tochter von nun an rigide zu kontrollieren. -
Aus der Perspektive des Kindes, das in den USA aufgewachsen ist, lässt uns Jhumpa Lahiri hier einen Blick auf das Familienleben bengalischer Einwanderer werfen.

In "Das Quartier der Wahl", der Geschichte von Megan und Amit deutet die Autorin Konflikte durch die bengalische Herkunft der Hauptfigur nur an. Amit hatte in Langford in den Berkshire Mountains studiert und wird zum ersten Mal nach 20 Jahren Pam, den Schwarm aller Jungen, aus Anlass ihrer Hochzeit wiedertreffen. Das eingeladene Paar erhofft sich einen Kurzurlaub, um vom Alltagsstress in Beruf und Familie abzuschalten. Amit wollte ursprünglich nie wieder an die Schule denken und daran, dass seine Eltern ihn soweit fortgeschickt hatten, als sie zurück nach Indien gingen. Das geplante Wochenende in idyllischer Umgebung verläuft anders als geplant. Während beim Hochzeits-Empfang im Garten gepflegte Konversation gemacht wird, kommt es für Megan und Amit zur Bestandausnahme ihrer Ehe.

"Der Inbegriff des Guten": Sudha hatte bei der Geburt ihres jüngeren Bruders Rahuls gehofft, "dass ihr jemand helfen würde, die Leere zu füllen, die sie in ihrem Elternhaus empfand". Der gut aussehende Rahul ist begabt und faul, während Sudha sich in der Schule anstrengen muss. Kinder bengalischer Eltern stehen unter besonderem Erfolgs-Druck; denn ihre Eltern wollen anderen gegenüber stolz auf ihre Kinder sein können. Sudha ahnt, dass ihre guten Leistungen eigentlich von Rahul erwartet werden und ihre Eltern nicht befriedigen können. Der von Sudha verwöhnte kleine Bruder scheitert in der Schule und beginnt zu trinken. Seine Schwester deckt ihn, so dass den Eltern Rahuls Probleme lange Zeit verborgen bleiben. Sudha, die die Anpassungsprobleme ihrer Eltern in einer amerikanischen Kleinstadt wie eine Krankheit betrachtet, übernimmt die Elternrolle für ihren Bruder, während die Eltern völlig hilflos die Verantwortung auf ihre Tochter schieben. - Sudhas Eltern scheinen nur äußerlich in den USA angekommen zu sein und sind nicht in der Lage, die Probleme ihrer Kinder wahrzunehmen.

Die unverheiratet Sang in "Das geht niemanden was an" arbeitet in einer Buchhandlung. Die 30-Jährige wohnt mit zwei Mitbewohnern in einer WG. Paul, der die meiste Zeit zu Hause arbeitet, wundert sich, warum Sang ständig von bengalischen Männern angerufen wird, die angeblich eine Kandidatin für eine arrangierte Ehe suchen. Er fragt sich, woher diese Männer Sangs Telefonnummer haben und warum Sang sie nicht abwimmelt, wenn sie sowieso keinen bengalischen Mann heiraten möchte. Schließlich beginnt Sang eine merkwürdige Beziehung zu einem Mann, dem sie vorspielt, sie hätte bereits einen festen Partner. Sang ist in Lahiris Geschichten die einzige Frau, die ohne Familie lebt. Die Gemeinschaft bengalischer Auswanderer bleibt hier im Hintergrund - eine unbekannte Person will Sang offenbar endlich standesgemäß unter die Haube bringen. Sang wirkt völlig hilflos darin, einen Mann realistisch einzuschätzen und eine Beziehung zu beginnen; sie erleidet das Interesse von Männern an ihrer Person.

Jhumpa Lahiris deutscher Verlag hat die Leser der indisch-stämmigen Autorin länger als ein Jahr auf die Folter gespannt, ehe nun nach Einmal im Leben die restlichen fünf Kurzgeschichten aus "Unaccustomed Earth" (2008) erschienen sind. Seit Melancholie der Ankunft haben sich Lahiris Figuren verändert. Es sind nicht mehr die Frauen, die ihren Männern klaglos in die USA folgten, um dort in einer Parallelgesellschaft beinahe wie in Indien zu leben. Dennoch sind ihre Hauptfiguren Runa, Usha, Sang, Sudha; die Männer Rahul und Amit in ihren Entscheidungen von überlieferten Normen ihrer bengalischen Vorfahren geprägt.
Fazit
Lahiris meisterhaft formulierte Geschichten zeigen anders als in ihrer ersten Sammlung von Kurzgeschichten eher das Gemeinsame gegensätzlicher Kulturen als das Trennende.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 16. März 2010

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