In der Titelgeschichte "Fremde Erde" ist die 36-jährige Runa mit
ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn von der amerikanischen Ostküste nach Seattle
gezogen. Runa fühlt sich noch fremd, verbringt die meiste Zeit allein mit dem
Kind zu Hause; ihr Mann Adam ist oft aus beruflichen Gründen unterwegs. Runas
verwitweter Vater hat sich zu seinem ersten Besuch am neuen Wohnort des jungen
Paares angekündigt. In einer bengalischen Familie würde von Runa erwartet,
dass sie ihren Vater bei sich aufnimmt. Runas Denken kreist darum, ob er sie
darum bitten wird, bei ihr und Adam wohnen zu dürfen, und wie sie darauf
reagieren soll. Runas Vater hat nach dem Tod seiner Frau inzwischen inneren
Frieden gefunden. Er fühlt sich befreit von der Verantwortung für eine
vierköpfige Familie und ausgefüllt von seiner politischen Arbeit. Auf einer
Reise lernte er eine verwitwete Frau aus Bengalen kennen. Mrs. Bagchi weiß,
was sie will; sie möchte sich nicht noch einmal auf einen Mann einstellen
müssen. Der alte Herr ist in Gedanken damit beschäftigt, wie er seiner Tochter
von Mrs. Bagchi erzählen kann. Auch er möchte gern seine Unabhängigkeit
behalten und fürchtet, seine Tochter damit zu verletzen. Großvater und Enkel
verleben ein paar intensive Tage miteinander beim Neuanlegen des Gartens. Die
Gartenarbeit und das Verhältnis des Vaters zu diesem Garten spiegeln die
Gedanken, die er sich über seine Tochter macht. Er möchte Runa gern glücklich
sehen, stellt sich darunter beruflichen Erfolg und finanzielle Unabhängigkeit
für sie vor. Runa wollte immer ein anderes Leben führen als ihre Mutter - und
lebt trotz beruflicher Qualifikation zur Zeit das traditionelle Leben einer
bengalischen Einwanderin als Hausfrau und Mutter. Dass die jungen Leute den
liebevoll angelegten Garten vermutlich verwildern lassen werden, wenn der
Gärtner wieder abgereist ist, zeigt in den Augen des Vaters ihre
Unselbstständigkeit. Vater und Tochter können ihre Sorgen um den anderen nur
schwer in Worte fassen; beide sind äußerlich integriert und dennoch gefangen
in den Normen der bengalischen Einwanderer. - Das bengalische Erbe spielt in
Runas Geschichte im Gegensatz zu Lahiris frühen Geschichten nur noch eine
Nebenrolle. Mit der Sorge um den alternden Vater, der ersten Trennung von
Mutter und Sohn und Runas bisher unausgesprochenen persönlichen
Glücksvorstellungen behandelt die Autorin universelle Fragen, die in jeder
Kultur zu finden sind.
Die siebenjährige Usha treffen wir in der Geschichte "Wie Himmel und
Hölle" mit dem von Lahiri gewohnten Motiv des "Onkels" aus
Bengalen, eines unverheirateten Mannes, der von einer in den USA lebenden
bengalischen Familie zum Essen eingeladen wird. Usha beobachtet belustigt, wie
ihre Mutter darin aufgeht, den Nenn-Onkel mit Köstlichkeiten aus ihrer
gemeinsamen Heimat zu bekochen. Mutter und Besucher fühlen sich einander
verbunden, weil beide aus Kalkutta stammen. Als der Onkel seine amerikanische
Freundin Deborah vorstellt, ahnt Usha, dass es deshalb in der abgeschlossenen
bengalischen Gemeinschaft Ärger gegen wird. Usha erkennt nun die Bedeutung
hinter der Bemerkung, "ihre Ehe wurde arrangiert". Sie hatte den
Ausruck von den Erwachsenen übernommen, ohne ihn zu verstehen und ohne zu
ahnen, wie gnadenlos bengalische Frauen urteilen, wen sie als Partnerin für
einen Mann aus ihrer Gemeinschaft für passend halten. Usha liebt Deborah wie
eine gleichaltrige Freundin, sie ist offenbar Deborahs einzige Vernündete.
Ushas Mutter nimmt die neue Freundin, die sie für das personifizierte Böse
hält, zum Anlass, ihre bald 13-jährige Tochter von nun an rigide zu
kontrollieren. -
Aus der Perspektive des Kindes, das in den USA aufgewachsen ist, lässt uns
Jhumpa Lahiri hier einen Blick auf das Familienleben bengalischer Einwanderer
werfen.
In "Das Quartier der Wahl", der Geschichte von Megan und Amit deutet
die Autorin Konflikte durch die bengalische Herkunft der Hauptfigur nur an. Amit
hatte in Langford in den Berkshire Mountains studiert und wird zum ersten Mal
nach 20 Jahren Pam, den Schwarm aller Jungen, aus Anlass ihrer Hochzeit
wiedertreffen. Das eingeladene Paar erhofft sich einen Kurzurlaub, um vom
Alltagsstress in Beruf und Familie abzuschalten. Amit wollte ursprünglich nie
wieder an die Schule denken und daran, dass seine Eltern ihn soweit
fortgeschickt hatten, als sie zurück nach Indien gingen. Das geplante
Wochenende in idyllischer Umgebung verläuft anders als geplant. Während beim
Hochzeits-Empfang im Garten gepflegte Konversation gemacht wird, kommt es für
Megan und Amit zur Bestandausnahme ihrer Ehe.
"Der Inbegriff des Guten": Sudha hatte bei der Geburt ihres jüngeren
Bruders Rahuls gehofft, "dass ihr jemand helfen würde, die Leere zu
füllen, die sie in ihrem Elternhaus empfand". Der gut aussehende Rahul ist
begabt und faul, während Sudha sich in der Schule anstrengen muss. Kinder
bengalischer Eltern stehen unter besonderem Erfolgs-Druck; denn ihre Eltern
wollen anderen gegenüber stolz auf ihre Kinder sein können. Sudha ahnt, dass
ihre guten Leistungen eigentlich von Rahul erwartet werden und ihre Eltern nicht
befriedigen können. Der von Sudha verwöhnte kleine Bruder scheitert in der
Schule und beginnt zu trinken. Seine Schwester deckt ihn, so dass den Eltern
Rahuls Probleme lange Zeit verborgen bleiben. Sudha, die die Anpassungsprobleme
ihrer Eltern in einer amerikanischen Kleinstadt wie eine Krankheit betrachtet,
übernimmt die Elternrolle für ihren Bruder, während die Eltern völlig
hilflos die Verantwortung auf ihre Tochter schieben. - Sudhas Eltern scheinen
nur äußerlich in den USA angekommen zu sein und sind nicht in der Lage, die
Probleme ihrer Kinder wahrzunehmen.
Die unverheiratet Sang in "Das geht niemanden was an" arbeitet in
einer Buchhandlung. Die 30-Jährige wohnt mit zwei Mitbewohnern in einer WG.
Paul, der die meiste Zeit zu Hause arbeitet, wundert sich, warum Sang ständig
von bengalischen Männern angerufen wird, die angeblich eine Kandidatin für
eine arrangierte Ehe suchen. Er fragt sich, woher diese Männer Sangs
Telefonnummer haben und warum Sang sie nicht abwimmelt, wenn sie sowieso keinen
bengalischen Mann heiraten möchte. Schließlich beginnt Sang eine merkwürdige
Beziehung zu einem Mann, dem sie vorspielt, sie hätte bereits einen festen
Partner. Sang ist in Lahiris Geschichten die einzige Frau, die ohne Familie
lebt. Die Gemeinschaft bengalischer Auswanderer bleibt hier im Hintergrund -
eine unbekannte Person will Sang offenbar endlich standesgemäß unter die Haube
bringen. Sang wirkt völlig hilflos darin, einen Mann realistisch einzuschätzen
und eine Beziehung zu beginnen; sie erleidet das Interesse von Männern an ihrer
Person.
Jhumpa Lahiris deutscher Verlag hat die Leser der indisch-stämmigen Autorin
länger als ein Jahr auf die Folter gespannt, ehe nun nach
Einmal im Leben die restlichen
fünf Kurzgeschichten aus "Unaccustomed Earth" (2008) erschienen
sind. Seit
Melancholie der Ankunft haben sich Lahiris Figuren verändert. Es
sind nicht mehr die Frauen, die ihren Männern klaglos in die USA folgten, um
dort in einer Parallelgesellschaft beinahe wie in Indien zu leben. Dennoch sind
ihre Hauptfiguren Runa, Usha, Sang, Sudha; die Männer Rahul und Amit in ihren
Entscheidungen von überlieferten Normen ihrer bengalischen Vorfahren geprägt.