Claires Vater hatte festgefügte Vorstellungen davon, wie Anfang des 20.
Jahrhunderts ein Mädchen aus bürgerlichem Haus in der Schweiz aufwachsen
sollte. Der Inhaber der Firma Wenk und Wildhaber in St. Gallen, die jungen
Paaren ihre komplette Aussteuer und Einrichtung verkaufte, schickte seine
Tochter Claire zur Erziehung in ein Pensionat in der französischsprachigen
Schweiz. Der Vater dringt darauf, dass die wildere seiner beiden Töchter ihre
Berufsausbildung in der väterlichen Firma macht. Er verlässt sich schon bald
so stark auf die Arbeitskraft seiner Tochter, dass er sich Claire als
erwachsene, verheiratete Frau kaum vorstellen mag. Claires Schwester Louise
folgt nach ihrer Heirat ihrem Mann an seinen Arbeitsplatz auf einer Plantage auf
der Insel Sumatra. Für Claire bietet sich deshalb 1924 die unerwartete
Gelegenheit der väterlichen Kontrolle zu entschlüpfen, indem sie in Louises
Haushalt die Verantwortung für die Erziehung ihres zweijährigen Neffen
übernimmt.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg waren Mädchen in Claires Alter auf dem Gebiet
der Sexualität völlig ahnungslos. Die Eltern sahen ihre wichtigste Aufgabe
darin, ihre Töchter zu behüten und den Kontakt zu geeigneten Heiratskandidaten
einzufädeln, die sie selbst für passend hielten. Claire wird nun abrupt mit
der Tatsache konfrontiert, dass europäische Pflanzer und Manager ihre ersten
sieben Jahre auf Sumatra mit einer einheimischen Frau verbringen, die sie
mitsamt den gemeinsamen Kindern spätestens dann fortschicken und auszahlen,
wenn sie aus ihrem ersten Heimaturlaub mit einer weißen Ehefrau zurückkehren.
Die jüngere Schwester der Hausherrin beobachtet das Verhältnis zwischen
weißen Kolonialherren und dem einheimischen Personal sehr kritisch und nimmt in
ihren Lebenserinnerungen kein Blatt vor den Mund. Claire Hakes Bericht zeichnet
sich durch ihr unerschrockenes kritisches Urteil über die Hierarchien aus, die
in Niederländisch Ost-Indien (dem heutigen Indonesien) von den Kolonialherren
vorgegeben wurden und von den deutschen Angestellten nicht infrage gestellt
werden durften. Als Schweizerin hat Claire einen unvoreingenommenen Blick auf
die weißen Herren, ihr Urteil ist von persönlicher Integrität und Mitgefühl
für andere geprägt. In dieser Situation, in der die Niederländer definieren,
wer mit wem gesellschaftlich verkehren darf, lernt Claire den charismatischen
Deutschen Gustav Hake kennen. Herr Hake ist erheblich älter als Claire und
sieht unverschämt gut aus. Doch für Claires Schwager ist jemand, der
"nur" als Assistent auf einer Plantage arbeitet, als Claires Verehrer
und Gast in seinem Haus indiskutabel. Auch Claires Vater wird nicht begeistert
sein, wenn ein Deutscher um die Hand seiner Tochter bei ihm anhält. Wie Claire
ihren Gustav schließlich heiratet und bald darauf die Rolle der fürsorglichen
Memtuan besar für das Personal eines großen Pflanzerhaushalts einnimmt, ist
eine fesselnde, sehr berührende Geschichte.
1938, als unter den auf Sumatra lebenden Deutschen noch niemand den drohenden
Kriegsbeginn ahnen kann, müssen die Hakes die Weichen für die Schulausbildung
ihrer kleinen Söhne stellen. Auf der Suche nach einer geeigneten Schule in
Deutschland spricht eine andere Mutter den Satz aus, der Titel von Claires
Erinnerungen werden wird: "Wir sind die Frauen mit den geteilten
Herzen" (die Mütter, die sich von ihren Kindern trennen müssen). Während
Hakes Kinder im vermeintlich sicheren Deutschland zur Schule gehen, werden kurz
nach Beginn des Zweiten Weltkriegs alle Männer europäischer Herkunft aus
Sumatra in ein indisches Lager am Fuße des Himalaja transportiert, Frauen und
Kinder auf eine Odyssee durch verschiedene Internierungs-Lager geschickt.
Claires unfreiwillige Flucht führt sie bis nach Shanghai und Japan. Aus
heutiger Sicht wissen wir, wie lange der Zweite Weltkrieg Claire und Gustav
voneinander trennen wird. Als die beiden sich nach abenteuerlichen Umwegen
schließlich in Deutschland wiedersehen, ist Gustav ein alter Mann, auf dessen
Erfahrungen als Pflanzer im zerbombten Deutschland niemand gewartet hat. Der
zweite Teil des Buches zeigt sehr anrührend, wie das Ehepaar Hake in
Südostasien zu "Displaced Persons" wird, weil Gustav Hake rein
zufällig als Deutscher in niederländischen Diensten steht.
Claire Hake, der eine Wahrsagerin einst ein unruhiges Leben prophezeite, konnte
ihre Enkelin Nicoline stets mit ihren Erzählungen aus Sumatra fesseln. Die
Enkeltochter bewunderte das Rebellische an ihrer selbstbewussten Großmutter.
Die fesselnden Erzählungen ihres Vaters aus seiner Kindheit gaben Nicoline Hake
den letzten Anstoß, die Lebensgeschichte ihrer Großmutter herauszugeben und
die historischen Hintergründe der Ereignisse zu kommentieren. Für ihre
erklärenden Anmerkungen hat die Autorin zahlreiche Quellen, Briefe und
Zeitzeugnisse genutzt.
Fazit
Nicoline und Claire Hakes faszinierendes Zeugnis eines ungewöhnlichen
Lebensweges fesselt und berührt nachhaltig durch die integre, tatkräftige
Persönlichkeit der Claire Hake und ihren kritischen, ernüchternden Blick auf
die Epoche des niederländischen Kolonialismus in Indonesien.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 12. März 2010 2010-03-12 12:25:04