Nathans Blick folgt dem Sekundenzeiger der Wanduhr. Langsam müsste sich auf der
Polizeiwache doch mal jemand um ihn kümmern. Nathan wird allmählich
ungehalten. Er und seine Freunde Vince und Laurens hatten offenbar noch Zeit
genug, sich vorher darüber abzusprechen, was sie der Polizei erzählen würden.
Der 16-Jährige ist auffallend gut über seine Rechte informiert. Weil er noch
nicht volljährig ist, muss die Polizei seine Eltern benachrichtigen. Warum ist
seine Mutter noch immer nicht da, um ihn abzuholen? Mama sorgt sich um das
Ozonloch, um jedes Problem dieser Welt, nur wenn ihr einziger Sohn sie braucht,
ist sie nicht da. Nathans Mutter erzieht ihren Sohn allein und hat sich bis
jetzt noch jedes Mal von ihm um den Finger wickeln lassen. Nathan vertraut
darauf, dass seine Mutter so wie immer alles schönreden wird, was ihr
Goldstück angestellt hat. Die Streiche, bei denen man ihren Sohn bisher
erwischt hat, waren nur Kinderstreiche, das muss sie den Leuten eben klar
machen.
Doch was Nathan dieses Mal mit der Hilfe seiner Freunde mit Elke getan hat, ist
kein Kinderstreich mehr. Der Gedanke, Elke oder ihre Mutter könnten bei der
Polizei aussagen, ist Nathan deshalb verflixt unangenehm. Feurincksx, der
Polizist mit dem Schnurrbart, der den Jungen vernimmt, kann sich noch gut an
Nathans so genannte Kinderstreiche erinnern. Damit hatte Nathan nicht gerechnet.
Sein Selbstbild gerät ins Rutschen, die Befragung wird zum Machtkampf zwischen
Ermittler und Beschuldigtem. Am Ende der Vernehmung spielt der Polizist einen
Trumpf aus, mit dem Nathan niemals gerechnet hätte.
"Mamas Liebling" erzählt in kurzen, prägnanten Sätzen aus der
Perspektive eines Jugendlichen, der noch nie selbst für seine Taten einstehen
musste. Nathans Entwicklung kann stellvertretend für die vieler Jugendlicher
stehen, bei denen der richtige Moment verpasst wurde, ihnen Konsequenzen für
ihr Handeln aufzuzeigen. Nathans Mutter hat ihren Sohn stets verteidigt,
Konsequenz gehört nicht zu ihren Stärken. Nathan hält es inzwischen für
selbstverständlich, dass seine Mutter ihn aus jeder unangenehmen Situation
wieder herauspauken wird. Jan Simeon zeigt allein Nathans Sicht der Dinge und
lässt seinen Lesern damit Raum zum Nachdenken, welches Frauenbild Nathans
Mutter ihrem Sohn bisher vorgelebt hat.
Fazit
Mit seiner kurzen Erzählung löst Jan Simeon beim Leser ein Wechselbad der
Gefühle aus. Mit nur sparsamen Andeutungen, welches Ereignis zu Nathans
Verhaftung geführt hat, hält der niederländische Autor seine Leser bei der
Stange. Das Interesse daran, was Nathan getan hat, wandelt sich in Abneigung
gegenüber Nathans Selbstmitleid, wechselt schließlich zu Verwunderung über
die Haltung seiner Mutter und geht in Verständnis für sie über.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 18. Februar 2010 2010-02-18 08:48:46