Der humanistische Fortschritt wird von vielen Philosophen und Dichtern als
Abkehr von der Archaik gesehen. In der modernen Welt spielen kaum noch Götter,
metaphysische Mächte, Bünde, Opfer oder Dienste eine Rolle. Weder Leidenschaft
noch Enthaltung begründen eine tiefere beseelte Weltschau. Zu den modernen
Annehmlichkeiten gehört die Sekurität. Der Sinn für die Tragik, für die
Natur erstirbt. Es werden Kümmerer großgezogen. Es ist aus Sicht der
Philosophen der Hang dieser Zivilisation, die Charaktere, Nationalgeister
einander anzugleichen und einen Weltenbrei anzurühren, in dem alle Nuancen
verschwinden - Uniformität, Wüßten, Langeweile und der Mangel an originärer
und vielseitiger Naturerfahrung.
Das Naturgedicht ist im Gegenzug ein Gedicht, in dessen Zentrum das Erleben von
Naturerscheinungen steht. Noch bevor dieses Bewußtsein Allgemeingut wurde,
empfanden Dichter die verletzte Harmonie zwischen Ich und Natur, erspürten die
gestörte Idylle und die Nicht-Balance zwischen Natur und Zivilisation als Folge
einer immer rasanter um sich greifenden Urbanisierung und technischer
Zivilisation. Die philosophischen Auswüchse dieser Analyse werden mit Oswald
Spengler, Hans Freyer oder José Ortega y Gasset markiert. Aber auch die Lyrik
brachte vielseitige Meister hervor. Eine mißhandelte Natur verweigerte für sie
die positive Sinneserfahrung. Mit der Aufwertung des Naturbegriffes durch den
französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau bzw. durch die Epoche des Sturm
und Drang im deutschen Sprachraum - hier Johann Gottfried Herder - erfährt
auch die Naturlyrik einen massiven Impetus.
Bei Goethe manifestieren sich die neuen Verknüpfungen von Natur und Mensch, von
Liebe und Subjektivität, von Genie und von künstlerischem Verfahren. Für den
Publizisten Gerhard Nebel etwa war der Waldgang in den anhaltinischen Wäldern
ein Urerlebnis. Spengler und der Philosoph Arthur Schopenhauer machten Eindruck
auf ihn. Die Naturbeobachtung war für ihn auch ein Mittel, sich als Verhöhner
der gerade gängigen modischen Phraseologie zu positionieren. Der Historismus,
der nicht fragt, wie man selbst zu den Dingen steht, sondern sie nur behandelt,
hat Nebel als Art der gelehrten Feigheit betrachtet.
Das vorliegende Buch nun enthält Aufsätze von Bernhard Gajek, Andreas Müller,
Klaus Gauger, Wolfgang Schühly und vielen mehr zu den prägenden Naturdichtern
der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Unter ihnen, die sich
selbst eine eigene - lyrische - Position zur Natur bildeten, gehören Johannes
Bobrowski, Wilhelm Lehmann, Günter Eich, Peter Huchel, Helmut Bartuschek, Oda
Schaefer oder Rolf Schilling und Uwe Lammla. Ihnen widmet sich das kleine
Bändchen, das Natursprache als Sprache versteht, die sich, verdichtend im Reim,
der Natur und ihren Lebewesen als Gegensatz zur Kultur stellt und diese in
ästhetisch reflektierter Form wiedergibt. Erst spät habe der Mensch eine
Naturlyrik entwickelt, die auf Beobachtung basiert und bei der persönliche,
eigene Empfindungen in Lyrik überführt werden - man könnte ergänzen: in
Abkehr der auch von Gerhard Nebel proklamierten Feigheit des Historismus.
Für die im Buch beschriebenen Dichter war die Haltung zentral, daß im
technischen Zeitalter eine originäre Naturlyrik zu vertrocknen droht. Der Wald
werde nicht als Kraftquelle, sondern als Ort der Holzverwertung gesehen. Viele
der Dichter waren noch von dem Gegensatz Stadt-Land geprägt, andere von der
Industrialisierung. Johannes Bobrowski etwa betonte, daß der Poet über
Tatsachen und Gegensätze des Lebens verfügen könne und damit etwas Neues,
Dichterisches erschaffe. Wilhelm Lehmann wiederum war der Überzeugung, ein
gutes Gedicht könne in kunstfeindlichen Zeiten wie der Diestelsame überleben,
um bei günstigeren Verhältnissen eine neue Naturlyrik zu entfachen.
Genau dieser Annahme fühlt sich auch das Buch verbunden. Neben Günther Eich
ist insbesondere der Beitrag über Peter Huchel überaus interessant. Huchels
Werk war geprägt von einem Dualismus: Das Individuum ist geformt durch soziale,
geistige Überlieferung und persönliche Veranlagung. Die Funktionalisierung des
Ästhetischen, der Lyrik, etwa durch Politik und Kulturindustrie, ist nicht
vereinbar mit der subjektiv-geistigen Physiognomie eines freien Denkers und
Dichters. Deshalb litt Huchel sehr unter der SED-Herrschaft. Was darin eindeutig
zum Ausdruck kommt ist die kreative Spontanität des Künstlers im Gegensatz zur
kollektivierenden Vorgabe. Das Werk Peter Huchels repräsentiert damit den im
deutschen Idealismus als anthropologisches Grundmuster angelegten Zwiespalt: Das
Bewußtsein kann nicht anders, als einen neuen Gegenstand von etwas Äußerem zu
erfassen. Der Gegenstand - hier die Dichtung und die Natur in der subjektiven
Wahrnehmung - ist für das Bewußtsein und den denkenden Schöpfer noch ein
anderer, ein eigener, als der Gegensand wie er von anderen Menschen wahrgenommen
wird. Das subjektive Erkennen Einzelner steht also der formalen Erwartung von
außen entgegen. Sehr wichtig sind überdies die Beiträge über den Dichter
Rolf Schilling, der die Naturschau als direkten Ratgeber und Weiser der Zukunft
versteht. Der Dichter Uwe Lammla erstreitet zudem in seiner Lyrik erfolgreich
einen Rückweg in die beseelte Welt und damit ein Menschenbild, das über das
Materialistische hinausweist.
Insgesamt bedeutet in den Werken der vielen deutschen Naturdichter die
Hinwendung zur Natur eine Neugewichtung derselben, eine Anerkennung der Aura des
Heiligen in ihr. Die Absicht in allen formellen, politischen oder starren
Systemen aber richtet sich auf die Unterbindung dieses metaphysischen Zustroms,
auf Zähmung und Dressur im Sinne des Kollektivs. Im Menschen selbst aber fällt
- folgen wir Ernst Jünger, Gerhard Nebel oder den vielen Naturdichtern - die
Entscheidung zur Naturschau. Die Naturerspürer rekrutieren sich aus jenen, die
auch in aussichtsloser Lage für die Freiheit zu kämpfen entschlossen sind. Das
graue verstaubte - so lehrt es dieses Buch beispielhaft - haftet nur der
Oberfläche an. Wer tiefer gräbt, erreicht in jeder Wüßte die fruchtbare
Schicht.
Fazit
Und mit den Wassern steigt die neue Potenz der Natur herauf. Diesem Weg fühlt
sich das vorliegende Buch mit seinen grundlegenden Essays verpflichtet.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 14. Februar 2010 2010-02-14 11:58:22