Anthologien bieten Lesern die Möglichkeit, Entdeckungen machen zu können. Im
Januar ist anlässlich zum Jahr der Kulturhauptstadt 2010 der Titel
"Stimmenwechsel. Poesie längs der Ruhr" im Essener Klartext Verlag
erschienen, ein Hardcover-Band mit 149 Seiten. Auffallend ist die
außergewöhnliche Gliederung: Im ersten Teil des Bandes findet sich eine
Sammlung von stilistisch sehr verschiedenen Gedichten, im zweiten einige
individuell gestaltete Interpretationen von Texten, die im ersten Teil nicht zu
finden waren. In einer Zeit, in der der Markt für Gedichte und ihre Kritik eng
geworden ist, sich die Aktivitäten inselhaft ins Internet verschoben haben, ist
es fast ein Sonderfall, mal wieder ein Buch in den Händen halten zu können.
Erleichtert wurde die Publikation mit öffentlichen Fördermitteln. Der
Herausgeber, Gerd Herholz, ist Leiter des Literaturbüros Ruhrgebiet.
Die Gedichte
Viele der veröffentlichten Gedichte leben von der Umgangssprache und dem Alltag
als Bezug. Hervorgehoben seien die Texte von Peter Zontkowski, Sigrid Kruse und
Marion Poschmann. Die bildhafte Verwendung von Worten erzeugt zwar
unterschiedliche Grade von Distanz zur Umgangssprache, doch erhalten Leser,
denen Verständlichkeit und bis zu einem Grad auch Vertrautheit wichtig ist,
Spiegelungen und Lichtbrechungen, denen sie rasch etwas abgewinnen können.
Das Gedicht "Ein paar Jahre" von Peter Zontkowski (Jg. 1954)
beschreibt eine Jugend Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, unter
Berücksichtigung der Volksparkwiese, den Wohnzimmern und Fabriken, spricht von
den großen Erwartungen, um mit der Zeile zu schließen: "ein paar Jahre
lang". Als ein Blick auf typische Jugendwehen wäre der Text kaum
erwähnenswert, spannender wird er politisch: Im Hintergrund steht nicht bloß
die Aufbruchsstimmung jener Zeit, sondern auch der ökonomische Niedergang der
Region, der bereits in den 70ern begann.
Von Sigrid Kruse (Jg. 1941) ist das Gedicht "Intermezzo" zu finden.
Die Autorin zeichnet sich durch einen Sprachwitz aus, der etwas Distanz zur
alltäglichen Verwendung von Worten schafft. Eine junge Frau beschreibend, ist
in der zweiten Strophe ihres Textes lesbar:
"Greift ein Mann sie am Arm,
streicht sie sein Haar
gegen den Kamm,
hält ihn mit Kraft vom Leib,
hast-du-nicht-gesehen,
trinkt sie seinen Kaffee.
Kriegt die Kurve
nicht vor Ende des Lieds."
Geschaffen wird eine portraithafte Momentaufnahme, die sich am Verhalten der
selbstbewussten, etwas keck anmutenden jungen Frau orientiert. Der Verbund der
freien Verse gibt dem Text besondere Leichtigkeit.
Marion Poschmann (Jg. 1969) konnte das Gedicht "Verschiedene Arten von
Verrücktheit" zur Verfügung stellen (aus: Grund zu Schlafen, 2004,
Frankfurter Verlagsanstalt). Ihre Sprache erhöht noch einmal die Distanz zur
Umgangsprache, bleibt aber durchaus zugänglich. Der dritte Abschnitt des
sechsteiligen, eventuell im Rahmen freier Verse sechsstrophigen Gedichts,
beginnt mit den Worten: "gestern wuchs die Stummheit in einer
Telefonzelle". Wer bereits zu viele Gedichte über Verlorenheit in der
Großstadt, Kälte in der Kommunikation oder esoterisch anmutende Unsagbarkeiten
gelesen hat, Probleme, die durchaus in den Griff zu bekommen wären, lasse sich
nicht täuschen. Die Stummheit ist selber bildlich, die Autorin erläutert sie
in der Folge, gleichsam beobachtend:
"Eiswürmer, die sich durch ein nächtliches Volumen fraßen
Risse hinterließen, weiße Krakel in der dunklen Masse".
Diese durchaus vershaft vermittelte Stummheit ist das Einzige, was in der
Situation noch etwas zu sagen scheint, auch oder gerade dann, wenn keine
Klärung in Sicht ist. Es sind möglicherweise die Gedanken, die
Nicht-Geäußerten, die Suchenden.
Die Interpretationen
Der Textgestalt nach handelt es sich um Essays, die Zugänge zu bestimmten
Gedichten erleichtern oder schaffen sollen. Die Ansätze und Durchführungen
sind dabei nicht weniger verschieden als die Gedichte, auf die jeweils Bezug
genommen wird. Dies kann für Leser sehr spannend sein: Lassen sich doch die
erläuternden Wege detailliert verfolgen. Sie bieten Anreiz genug, als Leser
eigene, eventuell alternative Gedanken zu entwickeln, auch wenn man sich nicht
als Fachkraft fühlt oder sogar weiß.
Drei Essays seien herausgegriffen. Mit ihnen lassen sich einige verschiedene
Ansätze kenntlich machen. Es handelt sich um "Das Aufleuchten des
Augenblicks" von Ralf Thenior (Jg. 1945), der über das Gedicht
"Regen" von Ralf Rothmann geschrieben hat, um "Über Marion
Poschmanns Grund zu Schlafen" von Herbert Kaiser und um "Die Toten und
die Mundtoten" von Roger Willemsen, der Thomas Gsellas "Tragödie und
Chor" interpretiert.
Ralf Thenior beginnt mit allgemeinen Einschätzung über das Lesen von
Gedichten: "Zwei Bewusstseinslagen, die des Dichters und die des Lesers,
müssen sich treffen. Wenn ein Funke überspringt, ist die Lektüre
geglückt." Man kann kritisch fragen, ob Lesern kognitive Prozesse von
Autoren zugänglich sind. Hat man nicht bloß einige, vermutlich wenige
Resultate vor Augen, die buchstäblich ablesbar sind? Der Autor nutzt im
Fortgang den heraufbeschworen Funken, um eigene Eindrücke und Assoziationen zu
vermitteln, die nicht immer auf die Textgestalt des interpretierten Gedichts
bezogen sind, sondern auf eine u.a. auch literaturgeschichtlich verbürgte
dichterische Ekstase des Augenblicks. Sein Übergriff ist ihm deutlich:
"Jetzt reicht es aber! höre ich meinen inneren Literaturprofessor
lospoltern." Als Leser des Essays erfährt man (nebenbei) viel über den
Schriftsteller Thenior.
Einen anderen, dezidiert sprachbezogenen Ansatz verfolgt Herbert Kaiser. Auch er
macht Lesern gleich zu Beginn deutlich, worin er seine Aufgabe sieht: "Das
Gedicht fordert zuallererst ein gründliches Lesen: ein Sammeln und
Zusammenlesen seiner Wörter und Phrasen zu Wortfeldern." Die von Autoren
genutzte Bildsprache, je weiter sie sich vom Gewohnten absetzt, lässt für
Leser möglicherweise offen, wie die Relationen der präsentierten Worte
zueinander - logische, eventuell auch grammatische - aussehen. Sprache bleibt
aber etwas Soziales, auch in der Poesie. Eingeschlagen wird ein
Erkenntnisprozess, eine Aneignung. Der Essay von Kaiser bietet eine
Detailfülle, in der weitaus mehr als nur Resultate vorgebracht werden, er
dokumentiert auch Wege, um diese Ergebnisse zu erhalten.
Dem Beitrag von Roger Willemsen ist zunächst gar nicht anzusehen, dass über
ein Gedicht zu sprechen sei. Er zeichnet im Anfang ein intimes Portrait des
Dichters, beschreibt Eindrücke, die in einem Lokal entstanden sein könnten:
"Thomas Gsella hat ein Gesicht wie ein barocker Wendekopf. In einer
bestimmten Beleuchtung glaubt man, er lächele, in einer anderen wiederum
scheint er resigniert. Und dann wieder nimmt das Gesicht einen Ausdruck an, als
wäre das Lächeln bei ihm im Exil." Diese Hinführung erleichtert den
Zugang zu einem Gedicht, das nicht durch sprachliche Exponiertheit, sondern
durch die satirische Haltung des Autors geprägt ist. Die Sogwirkung des Essays
geht von jener Zeichnung aus, verliert sich aber nicht in der folgenden
Erläuterung der sprachlichen Mittel, die Gsella in seinem liedhaft gebauten, an
Heines Poesie erinnernden Text einsetzt. Eine für mich spannende, über das
Gedicht und den Essay hinausgehende Überlegung wäre, ob die angestrebte
Leichtigkeit eventuell mit anderen, nicht zum Leiern neigenden halben
Vagentenstrophen (4-3-4-3) erreicht werden kann.
Das kulturpolitische Anliegen
Das Anliegen, der Region durch diese Publikation in der Poesie ein Profil zu
geben, lassen das Buch auch kulturpolitisch interessant werden. Schwierig wird
es im Detail: Einige Autoren leben und Arbeiten längst nicht mehr im
Ruhrgebiet, sondern sind inzwischen in anderen Regionen zu Hause, die in Essen
gebürtige Marion Poschmann z.B. in Berlin. Es ist literarisch nicht unüblich,
den Geburtsort oder sonstige Verbundenheiten einzubeziehen, wenn als ein
Kriterium regionale Abgrenzung verlangt wird. Der Untertitel Poesie längs der
Ruhr ist jedoch unglücklich gewählt.
Fazit
Sieht man von der literarisch nebensächlichen Titelei ab, im Zentrum sollten
die Texte stehen, hat man ein Lesebuch vor Augen, in dem sich zu blättern
lohnt. Natürlich gibt es qualitative Unterschiede. Das Buch ist aber
konzeptionell und im Hinblick auf die präsentierten Texte reichhaltig genug, um
es Lesern empfehlen zu können, die Gedichte, individuell gestaltete
Interpretationen und Autoren (wieder) entdecken möchten.
Vorgeschlagen von Reinhard Matern
[Profil]
veröffentlicht am 12. Februar 2010 2010-02-12 17:30:37