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Gerd Herholz (Hg.): Stimmenwechsel - Poesie entlang der Ruhr

Stimmenwechsel - Poesie entlang der Ruhr

von Gerd Herholz (Hg.)
Verlag: Klartext Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Lyrik
ISBN-13 978-3-8375-0292-3

Preis: 1,99 Euro bei Amazon.de [Stand: 04. November 2024]
Anthologien bieten Lesern die Möglichkeit, Entdeckungen machen zu können. Im Januar ist anlässlich zum Jahr der Kulturhauptstadt 2010 der Titel "Stimmenwechsel. Poesie längs der Ruhr" im Essener Klartext Verlag erschienen, ein Hardcover-Band mit 149 Seiten. Auffallend ist die außergewöhnliche Gliederung: Im ersten Teil des Bandes findet sich eine Sammlung von stilistisch sehr verschiedenen Gedichten, im zweiten einige individuell gestaltete Interpretationen von Texten, die im ersten Teil nicht zu finden waren. In einer Zeit, in der der Markt für Gedichte und ihre Kritik eng geworden ist, sich die Aktivitäten inselhaft ins Internet verschoben haben, ist es fast ein Sonderfall, mal wieder ein Buch in den Händen halten zu können. Erleichtert wurde die Publikation mit öffentlichen Fördermitteln. Der Herausgeber, Gerd Herholz, ist Leiter des Literaturbüros Ruhrgebiet.


Die Gedichte

Viele der veröffentlichten Gedichte leben von der Umgangssprache und dem Alltag als Bezug. Hervorgehoben seien die Texte von Peter Zontkowski, Sigrid Kruse und Marion Poschmann. Die bildhafte Verwendung von Worten erzeugt zwar unterschiedliche Grade von Distanz zur Umgangssprache, doch erhalten Leser, denen Verständlichkeit und bis zu einem Grad auch Vertrautheit wichtig ist, Spiegelungen und Lichtbrechungen, denen sie rasch etwas abgewinnen können.

Das Gedicht "Ein paar Jahre" von Peter Zontkowski (Jg. 1954) beschreibt eine Jugend Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, unter Berücksichtigung der Volksparkwiese, den Wohnzimmern und Fabriken, spricht von den großen Erwartungen, um mit der Zeile zu schließen: "ein paar Jahre lang". Als ein Blick auf typische Jugendwehen wäre der Text kaum erwähnenswert, spannender wird er politisch: Im Hintergrund steht nicht bloß die Aufbruchsstimmung jener Zeit, sondern auch der ökonomische Niedergang der Region, der bereits in den 70ern begann.

Von Sigrid Kruse (Jg. 1941) ist das Gedicht "Intermezzo" zu finden. Die Autorin zeichnet sich durch einen Sprachwitz aus, der etwas Distanz zur alltäglichen Verwendung von Worten schafft. Eine junge Frau beschreibend, ist in der zweiten Strophe ihres Textes lesbar:

"Greift ein Mann sie am Arm,
streicht sie sein Haar
gegen den Kamm,
hält ihn mit Kraft vom Leib,
hast-du-nicht-gesehen,
trinkt sie seinen Kaffee.
Kriegt die Kurve
nicht vor Ende des Lieds."

Geschaffen wird eine portraithafte Momentaufnahme, die sich am Verhalten der selbstbewussten, etwas keck anmutenden jungen Frau orientiert. Der Verbund der freien Verse gibt dem Text besondere Leichtigkeit.

Marion Poschmann (Jg. 1969) konnte das Gedicht "Verschiedene Arten von Verrücktheit" zur Verfügung stellen (aus: Grund zu Schlafen, 2004, Frankfurter Verlagsanstalt). Ihre Sprache erhöht noch einmal die Distanz zur Umgangsprache, bleibt aber durchaus zugänglich. Der dritte Abschnitt des sechsteiligen, eventuell im Rahmen freier Verse sechsstrophigen Gedichts, beginnt mit den Worten: "gestern wuchs die Stummheit in einer Telefonzelle". Wer bereits zu viele Gedichte über Verlorenheit in der Großstadt, Kälte in der Kommunikation oder esoterisch anmutende Unsagbarkeiten gelesen hat, Probleme, die durchaus in den Griff zu bekommen wären, lasse sich nicht täuschen. Die Stummheit ist selber bildlich, die Autorin erläutert sie in der Folge, gleichsam beobachtend:

"Eiswürmer, die sich durch ein nächtliches Volumen fraßen
Risse hinterließen, weiße Krakel in der dunklen Masse".

Diese durchaus vershaft vermittelte Stummheit ist das Einzige, was in der Situation noch etwas zu sagen scheint, auch oder gerade dann, wenn keine Klärung in Sicht ist. Es sind möglicherweise die Gedanken, die Nicht-Geäußerten, die Suchenden.


Die Interpretationen

Der Textgestalt nach handelt es sich um Essays, die Zugänge zu bestimmten Gedichten erleichtern oder schaffen sollen. Die Ansätze und Durchführungen sind dabei nicht weniger verschieden als die Gedichte, auf die jeweils Bezug genommen wird. Dies kann für Leser sehr spannend sein: Lassen sich doch die erläuternden Wege detailliert verfolgen. Sie bieten Anreiz genug, als Leser eigene, eventuell alternative Gedanken zu entwickeln, auch wenn man sich nicht als Fachkraft fühlt oder sogar weiß.

Drei Essays seien herausgegriffen. Mit ihnen lassen sich einige verschiedene Ansätze kenntlich machen. Es handelt sich um "Das Aufleuchten des Augenblicks" von Ralf Thenior (Jg. 1945), der über das Gedicht "Regen" von Ralf Rothmann geschrieben hat, um "Über Marion Poschmanns Grund zu Schlafen" von Herbert Kaiser und um "Die Toten und die Mundtoten" von Roger Willemsen, der Thomas Gsellas "Tragödie und Chor" interpretiert.

Ralf Thenior beginnt mit allgemeinen Einschätzung über das Lesen von Gedichten: "Zwei Bewusstseinslagen, die des Dichters und die des Lesers, müssen sich treffen. Wenn ein Funke überspringt, ist die Lektüre geglückt." Man kann kritisch fragen, ob Lesern kognitive Prozesse von Autoren zugänglich sind. Hat man nicht bloß einige, vermutlich wenige Resultate vor Augen, die buchstäblich ablesbar sind? Der Autor nutzt im Fortgang den heraufbeschworen Funken, um eigene Eindrücke und Assoziationen zu vermitteln, die nicht immer auf die Textgestalt des interpretierten Gedichts bezogen sind, sondern auf eine u.a. auch literaturgeschichtlich verbürgte dichterische Ekstase des Augenblicks. Sein Übergriff ist ihm deutlich: "Jetzt reicht es aber! höre ich meinen inneren Literaturprofessor lospoltern." Als Leser des Essays erfährt man (nebenbei) viel über den Schriftsteller Thenior.

Einen anderen, dezidiert sprachbezogenen Ansatz verfolgt Herbert Kaiser. Auch er macht Lesern gleich zu Beginn deutlich, worin er seine Aufgabe sieht: "Das Gedicht fordert zuallererst ein gründliches Lesen: ein Sammeln und Zusammenlesen seiner Wörter und Phrasen zu Wortfeldern." Die von Autoren genutzte Bildsprache, je weiter sie sich vom Gewohnten absetzt, lässt für Leser möglicherweise offen, wie die Relationen der präsentierten Worte zueinander - logische, eventuell auch grammatische - aussehen. Sprache bleibt aber etwas Soziales, auch in der Poesie. Eingeschlagen wird ein Erkenntnisprozess, eine Aneignung. Der Essay von Kaiser bietet eine Detailfülle, in der weitaus mehr als nur Resultate vorgebracht werden, er dokumentiert auch Wege, um diese Ergebnisse zu erhalten.

Dem Beitrag von Roger Willemsen ist zunächst gar nicht anzusehen, dass über ein Gedicht zu sprechen sei. Er zeichnet im Anfang ein intimes Portrait des Dichters, beschreibt Eindrücke, die in einem Lokal entstanden sein könnten: "Thomas Gsella hat ein Gesicht wie ein barocker Wendekopf. In einer bestimmten Beleuchtung glaubt man, er lächele, in einer anderen wiederum scheint er resigniert. Und dann wieder nimmt das Gesicht einen Ausdruck an, als wäre das Lächeln bei ihm im Exil." Diese Hinführung erleichtert den Zugang zu einem Gedicht, das nicht durch sprachliche Exponiertheit, sondern durch die satirische Haltung des Autors geprägt ist. Die Sogwirkung des Essays geht von jener Zeichnung aus, verliert sich aber nicht in der folgenden Erläuterung der sprachlichen Mittel, die Gsella in seinem liedhaft gebauten, an Heines Poesie erinnernden Text einsetzt. Eine für mich spannende, über das Gedicht und den Essay hinausgehende Überlegung wäre, ob die angestrebte Leichtigkeit eventuell mit anderen, nicht zum Leiern neigenden halben Vagentenstrophen (4-3-4-3) erreicht werden kann.


Das kulturpolitische Anliegen

Das Anliegen, der Region durch diese Publikation in der Poesie ein Profil zu geben, lassen das Buch auch kulturpolitisch interessant werden. Schwierig wird es im Detail: Einige Autoren leben und Arbeiten längst nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern sind inzwischen in anderen Regionen zu Hause, die in Essen gebürtige Marion Poschmann z.B. in Berlin. Es ist literarisch nicht unüblich, den Geburtsort oder sonstige Verbundenheiten einzubeziehen, wenn als ein Kriterium regionale Abgrenzung verlangt wird. Der Untertitel Poesie längs der Ruhr ist jedoch unglücklich gewählt.
Fazit
Sieht man von der literarisch nebensächlichen Titelei ab, im Zentrum sollten die Texte stehen, hat man ein Lesebuch vor Augen, in dem sich zu blättern lohnt. Natürlich gibt es qualitative Unterschiede. Das Buch ist aber konzeptionell und im Hinblick auf die präsentierten Texte reichhaltig genug, um es Lesern empfehlen zu können, die Gedichte, individuell gestaltete Interpretationen und Autoren (wieder) entdecken möchten.
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Vorgeschlagen von Reinhard Matern [Profil]
veröffentlicht am 12. Februar 2010

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