Gordon A. Craig gehört zu den führenden angelsächsischen liberalen
Historikern. Er hat sich sein Leben lang mit deutscher Geschichte beschäftigt
und ist für sein fulminantes Werk: "Deutsche Geschichte von
1866-1945" ausgezeichnet worden. Um die deutsche Geschichte von Bismarck
bis zur deutschen Wiedervereinigung dreht sich sein neues Buch. Es versammelt
verschiedene Essays des Autors zur deutschen Geschichte. Er bespricht darin
wichtige und wegweisende Titel zur neueren deutschen Geschichte, von Lothar
Galls bekannter Bismarck-Biographie, John G. Roehls Aufsatzsammlung:
"Kaiser, Hof und Staat", Henry Turners: "Hitlers Weg zur
Macht", Henry Friedländers: "Weg zum NS-Genozid" oder Bullocks
fulminante Doppelbiographie über Hitler und Stalin. Anhand dieser
Buchbesprechungen wird in 15 Essays die deutsche Geschichte erneut erzählt. Er
schreibt für das historisch interessierte Publikum, nicht an den
Fachhistoriker. Dennoch sind meine Erwartungen nicht erfüllt. Erstens ergibt
sich - zumindest für die Geschichte bis 1945 - nichts entscheidend Neues
gegenüber seinen früheren Publikationen, etwa seiner "Deutschen
Geschichte von 1866-1945." Außerdem werden wichtige weitere Standardwerke
zur deutschen Geschichte, etwa Haffners "Von Bismarck zu Hitler" oder
Kershaws Publikationen
über das Dritte Reich, etwa sein "Hitler-Mythos" oder seine
Hitler-Biographie, schlicht ausgespart. Dass keines der bahnbrechenden Werke
Karl Dietrich Brachers
angesprochen wird, ist für mich ein schlichtes Manko. Auch zur Geschichte des
Kaiserreiches vermisse ich die wichtige Biographie von
Volker Ullrich: "Die nervöse
Großmacht" von 1997. Bei der Besprechung des Werkes von Turner übernimmt
er relativ unkritisch dessen These, die Machtübergabe an Hitler sei zu
vermeiden gewesen. Dabei wird häufig übersehen, dass es seit den Wahlen vom
Juli 1932 eine Alternative zu Hitler nicht gegeben hat, da NSDAP und DNVP
zusammen über 42% an Stimmen verfügten und mit der KPD zusammen über die
absolute Mehrheit im Reichstag. Daran änderten auch die November-Wahlen von
1932 nichts. Eine Regierungsfähigkeit der Demokraten war seit diesem Zeitpunkt
eben leider nicht mehr gegeben. Die Ursachen des Niedergangs der Weimarer
Republik und des Aufstieges des Nationalsozialismus werden - im Gegensatz zu
seinen früheren Werken - nur gestreift. Dafür finden sich ausführliche
Aufsätze zu den Persönlichkeiten von Goebbels und Speers, die als Helfer
Hitlers sicherlich interessant sind, jedoch hätte ich als Autor deutlich andere
Schwerpunkte gesetzt. Wichtige Einzelaspekte zur deutschen Geschichte bis 1945
kommen einfach zu kurz. Das gesamte Buch ist ja nicht dicker als 260 Seiten. Da
hätte man meines Erachtens gut und gerne auf die Aufsätze über Goebbels und
Speer verzichten können und der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik, die
nur relativ kurz abgehandelt wird, mehr Platz einräumen können. Zwar ist Craig
fair im Urteil und gibt eine wohltuend ausgewogene Bewertung über die
wichtigsten Standardwerke zur neueren deutschen Geschichte ab. Wirklich Neues
hat er aber nicht zu bieten; die Werke von Haffner oder
Krockow: "Die Deutschen in
ihrem Jahrhundert!" sind hier meines Erachtens als Einführung eindeutig
dem neuen Buch von Craig vorzuziehen. Krockows Werk wird im übrigen von Craig
in seinen Aufsätzen ausführlich und fair rezensiert, aber mehr als ein
kursorischer Überblick zur neuesten deutschen Geschichte findet sich in diesem
neuen Werk leider nicht. Außerdem ist seine Schwerpunktsetzung für mich nicht
nachvollziehbar. Schade, ich hatte aufgrund seiner früheren Werke eindeutig
mehr erwartet. Positiv hervorzuheben ist jedoch die stilistische Brillianz und
leichte Lesbarkeit, die auch diese Essays erneut auszeichnen. Sie können aber
die obigen Mängel nicht wettmachen.
Fazit
Wer ausführlicher über die neueste deutsche Geschichte informiert werden will,
sollte zu seinem früheren Buch "Deutsche Geschichte von 1866-1945"
greifen, welches heute noch eines der besten Standardwerke zu diesem Thema
darstellt. Der interessierte Leser ist damit sicherlich besser bedient als mit
dieser gutgemeinten, aber letztlich nicht befriedigenden Aufsatzsammlung.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 30. Juni 2003 2003-06-30 20:46:37