Ein Jahr nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz 1989 in Peking, wird in
Shanghai an einer abgelegenen Stelle die Leiche einer jungen Frau gefunden. Guan
Hongying - der Nachname steht im Chinesischen vorn, der Vorname bedeutet
"rote Heldin" - war nach ihrem Urlaub nicht an ihren Arbeitsplatz im
Kaufhaus zurückgekehrt. Mit den Ermittlungen werden Oberinspektor Chen Cao,
sein Assistent Yu Guangming und der pensionierte Kader Kommissar Zhang
beauftragt. Dieses Dreier-Gespann verkörpert die Widersprüche und Brüche der
modernen chinesischen Gesellschaft.
Während alle anderen Jugendlichen unter Mao zur Landarbeit in entlegene
Provinzen geschickt wurden, hatte Chen Englisch studiert. Er übersetzt in
seiner Freizeit Kriminalromane ins Chinesische und veröffentlicht Gedichte. Aus
politischen Gründen war er im diplomatischen Dienst unerwünscht. Chen sieht
sich als romantischen Polizisten, der an Gerechtigkeit glaubt. Man fragt sich
sofort, ob er seine Fähigkeit nicht anderswo nutzbringender einsetzen kann. Als
alleinstehende Person hat der Oberinspektor zum Verdruss seiner Kollegen eine
eigene Wohnung zugewiesen bekommen, während andere jahrelang in Wohnheimen für
Berufstätige leben müssen.
Der junge Polizist Yu Guangming dagegen lebt mit Frau und Kind in einem 11
Quadratmeter großen Zimmer. Kader Zhang versteht nach Dengs Reformen die neue
Welt nicht mehr, in der Bauernmädchen Computersprachen lernen und mit CDs
handeln. Auch wenn er die jungen Kollegen bei der Arbeit eher behindert, muss er
bei den Ermittlungen beschäftigt werden. Bald wird klar, dass Hongying, die
Modellarbeiterin, ein Doppelleben geführt hat und Kontakte zu Bewohnern eines
vornehmen Stadtviertels hatte. Ein "Prinzling", ein privilegiertes
Kaderkind, muss in den Fall verwickelt sein. Die Ermittlungen werden als
direkter Angriff auf die Partei gewertet. Die Disziplinarkommission der
Polizeibehörde mischt sich ein, Chen kann bald keinen Schritt mehr unbeobachtet
tun.
Der Leser hat sich bis zu diesem Punkt mehrfach gefragt, warum er immer wieder
Exkursen in die chinesische Geschichte und die klassische Literatur folgen muss.
Meisterhaft karikiert der Autor die chinesische Art der Kommunikation: Anstatt
die Dinge direkt anzusprechen, werden zunächst Umwege eingeschlagen, man
verbirgt sich hinter feinen Andeutungen und Symbolen. Die Kunst, winzige Nuancen
wahrzunehmen und richtig zu deuten, wird für Chen lebenswichtig. Wird er
rechtzeitig genug Beweise gesammelt haben, ehe er auf einen anderen Posten
abgeschoben wird? Und was ist mit seinem persönlichen Netz aus Gefälligkeiten
und Verpflichtungen?
Anhand der Lebensbedingungen der Ermittler und des Opfers beschreibt der Autor
kenntnisreich und mit Liebe für Details das Alltagslebens einer chinesischen
Großstadt, das es nach rasanten wirtschaftlichen Veränderungen so oft schon
nicht mehr gibt. Auch Chens Studienort Peking und die Sonderwirtschaftszone
Guangzhou werden beschrieben. Am Beispiel des alten Zhang verdeutlicht Qiu dem
individualistischen, ungeduldigen Leser im Westen, dass es in China nur
schleppend gesellschaftliche Veränderungen geben wird, solange wichtige
Entscheidungen von "Berufs-Kadern" anstatt von qualifizierten
Fachleuten getroffen werden. Die Freiheit einer einzelnen Person und ihr
Anspruch auf Glück und Rechtssicherheit muss hinter den Interessen der
Gemeinschaft (hier: der Partei) zurückstehen.
Die 2000 in New York unter dem Namen "Death of a Red Heroine"
erschienene englische Ausgabe wurde mit dem Anthony Award für den besten
Debüt-Roman ausgezeichnet.
Fazit
Ein auch für China-Kenner fesselnder Kriminalroman, der seine Leser und
Leserinnen mit zunehmender Spannung bis zur letzten Seite mit Yu und Chen
fiebern lässt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 15. Juni 2003 2003-06-15 13:18:29