Als Tag der Hinrichtung für Gu Shan, die Tochter des Lehrers Gu, wurde der
21.3.1979 festgelegt, der Frühlingsanfang. Es wird eine Denunziationsfeier im
Sportstadion geben, an der alle Schulklassen mit ihren Lehrern teilzunehmen
haben. Shan hatte sich während der Mao-Zeit als fanatische Rotgardistin
hervorgetan, die nun vermutlich von alten Feinden bei den Behörden denunziert
wurde. "Bleib so klein wie ein Sandkorn" - hatte Shans Vater seiner
Tochter für ihr Leben mit auf den Weg geben wollen, doch für sie kam damals
der Rat ihres Vaters zu spät.
Lehrer Gu ist ein herzensguter Mann, der sich schon immer aktiv dafür
eingesetzt hat, dass alle Mädchen zur Schule gehen. Vermutlich handelte Gu aus
Mitgefühl, ohne die Stärkung der gesellschaftlichen Position von Frauen durch
Bildung bewusst im Blick zu haben. Gerade Lehrer Gu, der sich stets für die
Bildung von Mädchen einsetzte, muss die Entwicklung seiner Tochter zur
fanatischen Rotgardistin hart getroffen haben. Eine besondere Beziehung
verbindet den Lehrer mit Nini, einem mageren, körperbehinderten Mädchen, das
ständig hungrig ist. Ninis Mutter hat sechs Kinder geboren und glaubt, dass
sie durch ihre behinderte Tochter mit einem Fluch belegt wurde. Auf Nini lastet
ein großer Teil der Hausarbeit und der Sorge für ihre jüngeren Schwestern.
Lehrer Gu lädt Nini regelmäßig zum Frühstück ein und will sie
unterstützen, damit sie für die Versorgung ihrer Familie nicht mehr stehlen
gehen muss. Ninis Mutter will die unerwünschte Tochter so bald wie möglich in
eine fremde Familie verheiraten. Ninis Meinung zu dem Geschäft interessiert
niemanden. Als Nini den 19-jährigen Bashi kennen lernt, beginnt sie sich fort
aus ihrem Leben und in eine Beziehung zu Bashi hinein zu träumen. Bashi lebt
nach dem Tod seiner Oma völlig isoliert und träumt wie Nini von einem
Menschen, der ganz für ihn da ist. Obwohl er genau weiß, dass er die
12-jährige Nini noch nicht heiraten kann, träumt auch er von einer gemeinsamen
Zukunft mit ihr. Bashi wird die tote Shan nach ihrer Hinrichtung zusammen mit
Kwen beerdigen.
Auch die Wege des kleinen Tong kreuzen sich am Tag vor der Hinrichtung mit denen
Gu Shans. Tong, ein Junge, der nicht sehr schlau ist, aber fleißig lernt, ist
gerade neu vom Dorf in die Stadt gekommen. Tong hat sich mit dem Lumpensammler
Hua angefreundet, der für Tong unbeschriebene Papierstreifen sammelt, auf denen
Tong schreiben kann. Tong nimmt in Yiyun Lis Roman die Rolle des Kritikers der
Todesstrafe ein, er stellt sich die entscheidende Frage, ob eine Regierung auch
einmal Fehler macht. Frau Hua, die Frau des Lumpensammlers, lebt hauptsächlich
in Erinnerung an ihre kleinen Pflegetöchter. Die Huas haben immer wieder
ausgesetzte weibliche Säuglinge bei sich aufgenommen. Inzwischen sind die
Mädchen von den Behörden in Heime gebracht oder schon in jungen Jahren als
Kindsbräute in die Familien ihrer zukünftigen Ehemänner verkauft worden. Die
Propagandarede auf die "Konterrevolutionärin Gu" im Stadion wird die
junge Nachrichtensprecherin Kai halten. Schulklassen werden sich geschlossen die
Hinrichtung in Stadion ansehen - ein makabrer, staatlich verordneter Zwang zur
Volksbelustigung. Kai Sie ist mit der Verurteilten zusammen zur Schule gegangen.
Als sie Mitglied rivalisierender Fraktionen der roten Garden wurden, trennten
sich die Wege der beiden Mädchen.
Yiyun Li verknüpft die Schicksale ihrer Figuren in "Die Sterblichen"
eng miteinander. Sie erzählt aus der Perspektive von Kindern, die niemand
wollte, von Außenseitern, die sich in einem unmenschlichen System einzurichten
versuchen und Halt aneinander suchen. Die politischen Verhältnisse zur Mao-Zeit
ließen Ehen zerbrechen und entfremdeten Eltern und Kinder einander. Im Jahr
1979 wiederholen sich die Ereignisse. Das Unrecht geschieht wieder einem
"Kind fremder Leute" - wer selbst kaum genug zum Leben hat, wird sich
darüber nicht den Kopf zerbrechen. Über die Mao-Zeit ist inzwischen alles
geschrieben, könnte man annehmen. Yuyin Lis Roman empfinde ich in der Flut
chinesischer Romane mit historischem Hintergrund als außergewöhnliches
Zeitzeugnis, das durch seine Menschlichkeit aus der Fülle der diesjährigen
Neuerscheinungen herausragt.
Die Autorin war zur Zeit der Ereignisse selbst noch Kind. Yuyin Li hebt
Einzelschicksale aus der Masse bedrückender Ereignisse der Mao-Ära heraus und
lässt ihre jungen Protagonisten Ereignisse beobachten, die uns westlichen
Lesern den Blick auf die Zusammenhänge öffnen. Wir lernen hinter dem
Schauprozess, der keine Straftat sühnen, sondern allein die Bevölkerung ruhig
halten soll, wirtschaftliche Interessen erkennen. Kein Zeitgenosse Ninis wird
die Todesstrafe in Frage stelle; denn die Menschen kennen es nicht anders und
wissen nicht, dass andere Staaten die Hinrichtung von Straftätern längst
abgeschafft haben. Die unerwünschten, vernachlässigten Kinder, die in den 70er
Jahren heranwuchsen, haben inzwischen selbst Kinder. Was werden Nini und Bashi
ihren Kindern mit auf den Weg gegeben haben - was ist aus den kleinen Mädchen
geworden, die Lumpensammler Hu wie Müll aufgelesen hat? Wer verfolgt, wie
Kinder von Wanderarbeitern oder Strafgefangenen in China heute aufwachsen, wird
zwischen den Szenen des Jahres 1979, die Li zu ihrem bewegenden Roman verknüpft
hat, und der Gegenwart wenig Unterschiede erkennen können.
Fazit
Yiyun Li will mit ihrem Roman den Blick auf die Konsequenzen der Mao-Zeit
richten und zeigen, was diese Epoche jeden einzelnen Bürger Chinas gekostet
hat. Das ist der Autorin auf eindringliche Art gelungen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. November 2009 2009-11-28 08:49:37