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Yiyun Li: Die Sterblichen

Die Sterblichen

von Yiyun Li
Verlag: Carl Hanser Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-446-23421-5

Preis: 17,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
Als Tag der Hinrichtung für Gu Shan, die Tochter des Lehrers Gu, wurde der 21.3.1979 festgelegt, der Frühlingsanfang. Es wird eine Denunziationsfeier im Sportstadion geben, an der alle Schulklassen mit ihren Lehrern teilzunehmen haben. Shan hatte sich während der Mao-Zeit als fanatische Rotgardistin hervorgetan, die nun vermutlich von alten Feinden bei den Behörden denunziert wurde. "Bleib so klein wie ein Sandkorn" - hatte Shans Vater seiner Tochter für ihr Leben mit auf den Weg geben wollen, doch für sie kam damals der Rat ihres Vaters zu spät.

Lehrer Gu ist ein herzensguter Mann, der sich schon immer aktiv dafür eingesetzt hat, dass alle Mädchen zur Schule gehen. Vermutlich handelte Gu aus Mitgefühl, ohne die Stärkung der gesellschaftlichen Position von Frauen durch Bildung bewusst im Blick zu haben. Gerade Lehrer Gu, der sich stets für die Bildung von Mädchen einsetzte, muss die Entwicklung seiner Tochter zur fanatischen Rotgardistin hart getroffen haben. Eine besondere Beziehung verbindet den Lehrer mit Nini, einem mageren, körperbehinderten Mädchen, das ständig hungrig ist. Ninis Mutter hat sechs Kinder geboren und glaubt, dass sie durch ihre behinderte Tochter mit einem Fluch belegt wurde. Auf Nini lastet ein großer Teil der Hausarbeit und der Sorge für ihre jüngeren Schwestern. Lehrer Gu lädt Nini regelmäßig zum Frühstück ein und will sie unterstützen, damit sie für die Versorgung ihrer Familie nicht mehr stehlen gehen muss. Ninis Mutter will die unerwünschte Tochter so bald wie möglich in eine fremde Familie verheiraten. Ninis Meinung zu dem Geschäft interessiert niemanden. Als Nini den 19-jährigen Bashi kennen lernt, beginnt sie sich fort aus ihrem Leben und in eine Beziehung zu Bashi hinein zu träumen. Bashi lebt nach dem Tod seiner Oma völlig isoliert und träumt wie Nini von einem Menschen, der ganz für ihn da ist. Obwohl er genau weiß, dass er die 12-jährige Nini noch nicht heiraten kann, träumt auch er von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr. Bashi wird die tote Shan nach ihrer Hinrichtung zusammen mit Kwen beerdigen.

Auch die Wege des kleinen Tong kreuzen sich am Tag vor der Hinrichtung mit denen Gu Shans. Tong, ein Junge, der nicht sehr schlau ist, aber fleißig lernt, ist gerade neu vom Dorf in die Stadt gekommen. Tong hat sich mit dem Lumpensammler Hua angefreundet, der für Tong unbeschriebene Papierstreifen sammelt, auf denen Tong schreiben kann. Tong nimmt in Yiyun Lis Roman die Rolle des Kritikers der Todesstrafe ein, er stellt sich die entscheidende Frage, ob eine Regierung auch einmal Fehler macht. Frau Hua, die Frau des Lumpensammlers, lebt hauptsächlich in Erinnerung an ihre kleinen Pflegetöchter. Die Huas haben immer wieder ausgesetzte weibliche Säuglinge bei sich aufgenommen. Inzwischen sind die Mädchen von den Behörden in Heime gebracht oder schon in jungen Jahren als Kindsbräute in die Familien ihrer zukünftigen Ehemänner verkauft worden. Die Propagandarede auf die "Konterrevolutionärin Gu" im Stadion wird die junge Nachrichtensprecherin Kai halten. Schulklassen werden sich geschlossen die Hinrichtung in Stadion ansehen - ein makabrer, staatlich verordneter Zwang zur Volksbelustigung. Kai Sie ist mit der Verurteilten zusammen zur Schule gegangen. Als sie Mitglied rivalisierender Fraktionen der roten Garden wurden, trennten sich die Wege der beiden Mädchen.

Yiyun Li verknüpft die Schicksale ihrer Figuren in "Die Sterblichen" eng miteinander. Sie erzählt aus der Perspektive von Kindern, die niemand wollte, von Außenseitern, die sich in einem unmenschlichen System einzurichten versuchen und Halt aneinander suchen. Die politischen Verhältnisse zur Mao-Zeit ließen Ehen zerbrechen und entfremdeten Eltern und Kinder einander. Im Jahr 1979 wiederholen sich die Ereignisse. Das Unrecht geschieht wieder einem "Kind fremder Leute" - wer selbst kaum genug zum Leben hat, wird sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Über die Mao-Zeit ist inzwischen alles geschrieben, könnte man annehmen. Yuyin Lis Roman empfinde ich in der Flut chinesischer Romane mit historischem Hintergrund als außergewöhnliches Zeitzeugnis, das durch seine Menschlichkeit aus der Fülle der diesjährigen Neuerscheinungen herausragt.

Die Autorin war zur Zeit der Ereignisse selbst noch Kind. Yuyin Li hebt Einzelschicksale aus der Masse bedrückender Ereignisse der Mao-Ära heraus und lässt ihre jungen Protagonisten Ereignisse beobachten, die uns westlichen Lesern den Blick auf die Zusammenhänge öffnen. Wir lernen hinter dem Schauprozess, der keine Straftat sühnen, sondern allein die Bevölkerung ruhig halten soll, wirtschaftliche Interessen erkennen. Kein Zeitgenosse Ninis wird die Todesstrafe in Frage stelle; denn die Menschen kennen es nicht anders und wissen nicht, dass andere Staaten die Hinrichtung von Straftätern längst abgeschafft haben. Die unerwünschten, vernachlässigten Kinder, die in den 70er Jahren heranwuchsen, haben inzwischen selbst Kinder. Was werden Nini und Bashi ihren Kindern mit auf den Weg gegeben haben - was ist aus den kleinen Mädchen geworden, die Lumpensammler Hu wie Müll aufgelesen hat? Wer verfolgt, wie Kinder von Wanderarbeitern oder Strafgefangenen in China heute aufwachsen, wird zwischen den Szenen des Jahres 1979, die Li zu ihrem bewegenden Roman verknüpft hat, und der Gegenwart wenig Unterschiede erkennen können.
Fazit
Yiyun Li will mit ihrem Roman den Blick auf die Konsequenzen der Mao-Zeit richten und zeigen, was diese Epoche jeden einzelnen Bürger Chinas gekostet hat. Das ist der Autorin auf eindringliche Art gelungen.
9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne9 Sterne
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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 28. November 2009

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