In einer alten, fast verschollenen Sonderausgabe der Gedichte Friedrich
Hölderlins (1770-1843) mit dem Titel "Vom heiligen Reich der
Deutschen" steht Hölderlins Gedicht "Gesang des Deutschen":
"Du Land des hohen, ernsteren Genius! Du Land der Liebe! bin ich der deine
schon, Oft zürnt ich weinend, daß du immer Blöde die eigene Seele
leugnest." Worin dieser geistige Genius und jene philosophische Seele genau
bestehen, beschreibt nunmehr ausführlich das "Handbuch Deutscher
Idealismus".
Die klassische deutsche Philosophie und ihr Begriff von Politik, Erkenntnis oder
Natur stellt sich seit dem 19. Jahrhundert als eine von integralem Bewußtsein
geprägte und tiefgründig das Wesen der Welt erfassende spezifische Denkart
dar, wie sie kaum wieder auftrat und folglich ein entsprechendes Erbe für die
Gegenwart in sich birgt. Es wirkten zu jener Zeit des Deutschen Idealismus im
19. Jahrhundert diekritische Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) und
Gegenpositionen rationalitätskritischer glaubensphilosophischer Art, wie der
‚Ich’-Idealismus Johann Gottlieb Fichtes (1762-1804), Joseph Schellings
(1775-1854) Bemühungen um einen Welten-Dualismus vermeidenden
‚Ideal-Realismus’ oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831) Metaphysik
des Absoluten als Geist.
Gleichwohl ist auch Arthur Schopenhauers (1788-1860) zeitgleiche Auflösung der
Welt in ‚Wille und Vorstellung’ prägend für ein deutsches Jahrhundert
gewesen. So ist es erfreulich, wenn ein im Metzler-Verlag erschienenes
"Handbuch Deutscher Idealismus" umfassend über diese
wirkungsmächtigste Ideenkonstellation Europas einen sinnvoll gegliederten
Einblick abliefert, dessen Besonderheit es ist, daß er diese philosophische
Strömung sowohl als nationalgeschichtliches Phänomen darstellt, als auch seine
Eingliederung in den internationalen Kontext absolviert. Herausgegeben worden
ist das Buch von Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler, der zudem 1999 als
Herausgeber der "Enzyklopädie Philosophie" (2 Bde., Meiner-Verlag,
Hamburg) agierte. Die Autoren des vorliegenden Buches stellen von Beginn an
fest, daß sich der Deutsche Idealismus "in weit komplexeren Dimensionen
entwickelt" habe, als bisher angenommen. Bereits hier wird die
internationale Perspektive deutlich. Dennoch - so muß fairerweise vorweg gesagt
werden - ist nicht zu leugnen, daß diese philosophische Ideenkonstellation
vorrangig ein im kontinentalen Mitteleuropa gewachsenes Denken ist, das
lediglich anderswo konstruktiv rezipiert wurde, was die Herausgeber implizit
zugeben, wenn sie ein eigenes Kapitel den "Rezeptionen des Deutschen
Idealismus in Europa" widmen. In ihm stellen sie heraus, "daß die
Intellektuellen aus ganz Europa sich in einem direkten Bezug auf die neuesten
Ergebnisse der deutschen Philosophischen Debatte nicht entziehen konnten".
Und in der Tat: War das 18. Jahrhundert mit Montesquieu (1689-1755) und Rousseau
(1712-1778) ein französisches Jahrhundert, so florierte der
"Weltgeist" gleichsam im 19. Jahrhundert in Deutschland und sollte -
wie noch zu zeigen sein wird - bis nach Amerika seinen Einfluß zeitigen. Worin
bestand also die Besonderheit der deutschen Denkart? Wieso dieses Buch?
Ihr Begriff von Philosophie und Politik stützt sich auf eine objektiv
anerkannte Vernünftigkeit, die sich im Wollen und im Handeln als Geist eines
Volkes verwirklicht und die Einzelnen als zusammengehörige Momente des Ganzen
betrachtet. Der Staat beispielsweise ist eine rationale, lebendige und
begrifflich-fundierte Rechts- und Verfassungsordnung, die von der inneren
Zustimmung der Rechtsunterworfenen, also von den in ihr lebenden Menschen,
getragen wird. Sie gilt als sich beständig optimierender Prozess, integriert
Elemente des parteipolitischen Parlamentarismus, achtet aber auf geistige
Eigenart, auf die "Eigenbedeutung aller menschlichen Phänomene", wie
es der französische Politologe Raymond Aron (1905-1983) in seinen Studien zur
deutschen Philosophie ausdrücklich feststellte. Die daran anschließende
deutsche Wissenssoziologie Karl Mannheims (1893-1947) betonte in diesem
Zusammenhang trefflich, daß Volk, Staat, Sprache und Gesellschaft in dieser
Verfassungsordnung subjektiv gemeinten Sinn zum Ausdruck bringen, der sich nach
außen kehrt und wiederum auf das gesamte Gefüge in seiner spezifischen
Eigenheit zurückwirkt. Die Realität wird wesentlich durch die ideellen
Konfiguration derselben im menschlichen Geiste konstituiert. Als Idealisten
gelten demnach schlechthin meist solche Menschen, welche die harte, reine
Realität und ihre Anforderungen verkennen und sich über vermeintlich
unerreichbare Ziele Gedanken machen. Konjunktur hätten dagegen längst die
Pragmatiker und Realisten.
Dem ist offenbar nicht so, denn das zu besprechende Handbuch stellt zudem über
den praktischen und umfassenden Anspruch der deutschen Philosophie heraus:
"...gegen den mechanistischen Materialismus besteht sie auf einer
lebendigen Materie, die von Anbeginn durch eine noch unbewusste Rationalität
geprägt ist; gegen eine auf Herrschaft über die Natur ausgerichtete
Naturforschung setzt sie sich auf die sympathetische Erforschung der Natur als
unserer eigenen ‚Vorgeschichte’; gegen die Ausbeutung der Natur plädiert
sie dafür, einen Sinn zu entwickeln für die Bedeutung der gemeinsamen
Zugehörigkeit alles Lebendigen zur Natur und für die sich hieraus ergebende
Verantwortung; dies macht ihre ethische Dimension aus." Es handelt sich
also um eine - diesem Zitat nach zu urteilen - moderne, progressive Philosophie
und um eine die Ontologie des Maßes verkündende Lebens- und Denkhaltung, die
heutigen Problemen der Ethik und ökologischer Katastrophen gewachsen ist,
gleichsam ein neues Denken von Lösungsansätzen zu liefern in der Lage wäre.
Gegen die reproduzierte Negativ-Folie vom Deutschen Idealismus stellt also das
Buch Sandkühlers und seines internationalen Autoren-Kollektivs heraus, daß das
idealistische Denken der Deutschen in seinen internationalen Auswirkungen
niemals der Suprematie von Stubenhockern, Begriffsscholastikern oder
Modernisierungsverlierern unterlag, sondern vielmehr weltläufigen, engagierten
und enzyklopädischen Anspruch vertritt.
Bei fortgesetzter Lektüre dieses den Status eines neuen Standardwerks zum Thema
verdienenden Buches, welches in systematisch konzipierten Kapiteln in die
einschlägigen philosophischen Fragestellungen wie Vernunft und das Absolute,
System und Methode, Erkenntnis und Wissen, Moral, Recht und Staat, Religion und
Kunst einführt, wird jedoch zu wenig deutlich, daß sich beispielsweise auf der
einen Seite ein prinzipiengeleiteter idealistischer Strang des Politikbegriffs
des Deutschen Idealismus mit realistischem Anspruch befindet, während auf der
anderen Seite ein konflikttheoretisch und konkurrenzdemokratisch orientierter
Strang des Politikbegriffs auf angelsächsischer Seite auszumachen ist. Im Bezug
zur Demokratie ließe sich weiter unterscheiden in eine konsens- und
gemeinwohlorientierte Demokratietradition reflexiver Praxis mit dynamischer
Offenheit auf Seiten des Deutschen Idealismus und eine
individualistisch-funktionale Demokratietradition konkurrierender Parteien mit
moralistischem Anspruch auf einen universalisierbaren Eigenwert, wie er in den
Schriften der deutschen Nachkriegspolitologen Kurt Sontheimer oder Iring
Fetscher auftrat, auf angelsächsischer Seite. Leider sind diese Unterschiede -
trotz dargestellter internationaler Konvergenzen des Denkens - von den Autoren
nicht benannt worden. Jene Divergenzen und ihr Konfliktpotential in den Kriegen
des 20. Jahrhunderts - man denke an Thomas Manns (1875-1955) gepflegte Dualismen
des Politikbegriffs aus "Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918) -
sind nicht von der Hand zu weisen. Der herkömmliche Zwiespalt ‚westlich’
und ‚deutsch’ könnte also - wenn man diese Unterschiede des Denkens betont
- aufgehoben werden, ohne die tatsächlichen Unterschiede zu negieren, die nach
1918 und 1945 zwischen idealistischer und materialistischer Auffassung unleugbar
sichtbar wurden.
Versöhnlich stimmt an dieser Stelle, daß das Buch Sandkühlers trotzdem
folgendes korrekt über den Deutschen Idealismus herausstellt: "Die
Geschichte durchläuft systematisch eine Reihe von prädeterminierten Etappen;
bei jeder Etappe nehmen die Grundinstitutionen der Gesellschaft (z.B. ihre
Politik, Religion, Wirtschaft und Kultur) eine charakteristische Form an."
Das Handbuch betont damit selbst, daß jedes Volk seinen eigenen Philosophie-
und Politikbegriff hat, und so hätten die Autoren um Sandkühler nebst
internationalen Konvergenzen des Denkens wohl vielmehr auch von je
differierenden philosophischen Phänomenen sprechen müssen, beschränkte sich
doch das idealistische Denken im Ausland eher auf eine Rezeption des Deutschen
Idealismus denn auf eigenständige Konzepte. Dabei war die von den Deutschen
Idealisten Anfang des 19. Jahrhunderts geforderte "intellektuelle
Erneuerung" ebenso erstrebtes Ziel in anderen europäischen Ländern -
lediglich 50 Jahre später. Der phänomenologische Binnenpluralismus
idealistischen Denkens hat seinen Kern offenbar dennoch in Deutschland, und
speiste sich hier aus dem Geiste von Idealismus, Realpolitik, Anthropologie,
Entfremdungskritik, integraler Kulturidee und geistiger Selbstbehauptung als
selbstreflexiver Tradition, um sich den Verwerfungen des materialistischen
Rationalismus, des diesseitigen Gewinnstrebens entgegenzustemmen. Er bot als
Gegenentwurf eine ideale, freie und gemeinschaftliche Realität mit erst darauf
aufbauender internationaler Perspektive, die Fichte vor allem in seinen
"Reden an die deutsche Nation" (1807/1808) entfaltete.
Auch diese Relation von Mikrokosmos und Makrokosmos, von Nation und
Kosmopolitismus, darzustellen, ist im vorliegenden Buch etwas versäumt worden,
war doch derDeutsche Idealismus eine dezidiert gegen dieenglische
sensualistisch-empiristische Philosophie gerichtete geistige Einheit. Normativer
Begriff und empirische Wirklichkeit, d.h. Sollen und Sein, Erfahrung und
Wissenschaft werden in die dialektische Denkbewegung hineingezogen, stehen sich
nicht gegenüber und machen diese Denkart vielmehr zu der bereits benannten
integralen Wirklichkeitswissenschaft.
Dennoch - das Buch Sandkühlers zeichnet sich trotz einer etwas konstruiert
wirkenden Darstellung des europäischen Charakters des Deutschen Idealismus
durch eine recht unvoreingenommene Schreibart aus, die geistige Phänomene
Europas benennt und implizit zu der Erkenntnis führt, daß es wohl eine
spezifisch deutsche Denkart, gar eine ‚deutsche Staatsidee’ im 19.
Jahrhundert gegeben hat, die wesentlich philosophisch bestimmt war. Sie kam aber
- so ließe sich fortsetzen - trotz gewisser Kontinuitäten nach 1945 nicht mehr
zum Tragen. Ihre freiheitlichen Elemente eines offenen und anthropologisch
fundierten Demokratieverständnisses, welches sich des Widerspruchs zwischen
freier subjektiver Vernunft und einem möglichen vernunftlosen Zustand von Staat
bewußt ist, sind unbeachtet geblieben. Als Beweis dafür können nach wie vor
die Revolutionsschriften Fichtes über die Grundsätze der Beurteilung von Staat
und Staatsveränderungen gelten, die 1967 von dem Bochumer Politologen Bernard
Willms herausgegeben wurden. So verwundert es nicht, daß in den Vorlesungen von
Fichte, Schelling und Hegel nicht nur Studenten, sondern auch höhere
Verwaltungsbeamte, Offiziere, Literaten und Politiker saßen. Philosophie war
nicht innerakademische Philologie und Mumienkult - wie heute - sondern
praktische Wissenschaft mit aktuellem Handlungsanspruch. Werden die
Menschenrechte heute im Sinne eines globalen Universalismus stolz dem
"christlichen Abendland" zugeschrieben, so sollte man dabei statt an
die Kirche vielmehr an die Aufklärung speziell in Deutschland und an das
Reflexionsvermögen Kants und Fichtes denken, die entgegen einem blinden
Dogmatismus der Religionen stets die freie geistige und sofort zu lebende
Spiritualität als eigentliche Religion forderten und damit die "Neue
Mythologie" oder die "Kraft der Phantasie" als Stichworte der
Jenaer Frühromantiker vorwegnahmen.
Hierzu befindet sich in dem Buch zurecht ein eigenes Kapitel, welches die
Bedeutung von Novalis (1772-1801), der in Lutherstadt Wittenberg eigentlich
Jurisprudenz studierte, oder Friedrich Hölderlin beschreibt. Glaubte Hölderlin
einst an die "künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten,
die alles bisherige schaamroth machen wird", so liegt gerade in dieser Zeit
der Frühromantik ein wesentlicher geistiger Impuls von nicht zu
unterschätzendem Einfluß auf das Selbstbewußtsein der Deutschen in einer von
politischen und sozialen Wandlungen geprägten Zeit begründet. Vier Jahre nach
Hegels Tod fuhr 1835 bekanntlich schon die erste deutsche Eisenbahn. In
historischer Parallele dazu: Das Selbstwertgefühl der alten Bundesrepublik
beruhte auf Wirtschaftswunder und Sozialstaat, auf Wohlstand und sozialer
Sicherheit. Der beständige Rückgang der Menge an
sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit und die
Wiederentdeckung von Individuum und Gemeinschaft haben ihre Ursache im Rückgang
der inzwischen labil gewordenen Gewährleistung von Wohlfahrt. Das kommt einem
Prozess der Entstaatlichung des Sozialen gleich. Mehrfach sind inzwischen - ohne
merkliche Veränderung der Realpolitik - die Krise der Demokratie, die Krise des
Europagedankens, die Krise des Sozialstaates und der Verlust nationaler
Identität zum Mittelpunkt konstruktiver Auseinandersetzungen geworden. Und so
erklärt sich die gleichsam voranschreitende Renaissance des Denkens Hölderlins
oder Novalis’ in Deutschland dadurch, daß sie wiederum zu neuen Halt gebenden
Fixpunkten des deutschen Selbstbewußtseins der Gegenwart geworden sind. Sie
geben nach wie vor zu bedenken, daß in Mitteleuropa eine besondere Reflexions-
und Denkkultur entstand, die außergewöhnlich kreative Potentiale in sich
birgt. Die "Zerrissenheit" des hölderlinschen Hyperion beruht auf
einem nicht gelungenen Verhältnis von Reflexion und empirischem Leben. Solange
dieses Verhältnis nicht positiv bewältigt ist, solange dominiert notwendig die
von Hyperion beklagte beispiellose "Zerrissenheit" und zeigt - gerade
in Deutschland - ihre negativen Auswirkungen. So schrieb der emotionell
zerrissene Hölderlin bekanntlich in "Hyperions Schicksalslied":
"Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von
Klippe Zu Klippe geworfen, Jahrelang ins Ungewisse hinab."
Sandkühler stellt analog dazu trefflich heraus, daß die Frühromantiker lange
nachwirkend eine geistige Revolution proklamierten, die im Gegensatz zur
physischen Revolution der Franzosen des Jahres 1789 steht und die auf die
"geistige Kultivierung eines Volkes" als reife politische Tat bedacht
gewesen sei. So absolvieren die Autoren um Sandkühler erstmals normativ
unvoreingenommen die Benennung der Wichtigkeit, die dem philosophischen Gedanken
von nahezu unendlichen geistigen Möglichkeitsstrukturen in Deutschland zukam.
Die Jenaer Frühromantiker liefern Zeugnis für diesen Gedanken ab und Oswald
Spengler (1880-1936) betonte damit - womöglich unerwartet - völlig richtig in
"Preußentum und Sozialismus" (1924): "Das klassische Land der
westeuropäischen Revolutionen ist Frankreich. (...) Die deutsche Revolution
aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische
Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen."
In anderer Hinsicht jedoch läßt das Handbuch weiterhin zu wünschen übrig.
Neben einer Auseinandersetzung mit den Frühromantikern und der Rezeption der
idealistischen Schriften in europäischen Ländern wie England, Italien,
Spanien, Frankreich und sogar Polen bleibt die amerikanische Perspektive völlig
außen vor, obwohl hier eine enorme Rezeption des deutschen Denkens stattfand.
Zu nennen wären die Namen Josiah Strong, der die Bekehrung der Welt zum
Christentum und einen amerikanischen Nativismus vertrat, den er als Sekretär in
der "American Evangelical Alliance" in Form einer Missionsideologie
sowie als Schöpfer der Prädestinationslehre der amerikanischen Weltherrschaft
praktisch anwenden konnte. Strong übertrug damit die Idee des deutschen
hegelschen Volksgeistes auf bedeutende Rassen, die in Analogie zu Hegels
Konstruktion des Weltgeistes jeweils ein bestimmtes formgebendes Prinzip
verkörpern. Die amerikanische imperiale Expansion sowie die von ihr damals
vertretene "Auslöschung der unterlegenen Rassen" wurzelt bei Strong
in einer Perversion des deutschen Gedankens vom "Weltgeist".
Zu nennen wäre sodann John W. Burgess, der seinen akademischen Einfluß an der
New Yorker Columbia Universität ausübte und als Autor des Periodikums
"Political Science Quarterly" rassisch fundierte
Imperialismusideologien vertrat, deren ungebrochener Fortschrittsoptimismus des
ausgehenden 19. Jahrhunderts zweifellos ohne die Hegelsche Missionsidee von den
"zivilisierten Nationen" nicht zu denken war. Der germanische
politische Genius beherrsche - so die amerikanischen Theoretiker - die Welt,
wohingegen die nationalsozialistische Idee lediglich als Reaktion verstanden
werden könnte. Burgess’ Lieblingsschüler, Theodore Roosevelt (1858-1919),
der bei Burgess die "wissenschaftliche" Rechtfertigung für seine
expansive Idee von Außenpolitik - auch gegen das Deutsche Reich - schöpfte,
bekam im 20. Jahrhundert genügend Möglichkeiten zu ihrer Anwendung.
Weiterhin sind die Namen James K. Hosmer, der als Sanguiniker die Keimzelle der
angelsächsischen Größe in der norddeutschen Tiefebene sah, und George B.
Adams zu nennen. Sie gehören zu den aberhundert amerikanischen Historikern,
welche ihre geistige Ausbildung, ihr akademisches und politisches Rüstzeug an
den vom Deutschen Idealismus geprägten Universitäten des Kaiserreichs
empfingen und die prägenden Ideen des Deutschen Idealismus gleichsam
exportierten, um hinter dem Atlantik die alternative Idee des "Vereinigten
Commonwealth aller Nationen unter angloamerikanischer Führung" zu
entwerfen. Erst jetzt wird die Tragweite des Denkens dieser amerikanischen
Akademiker in ihrer Verbindung zum Deutschen Idealismus deutlich, was deren
Nichterwähnung in dem Buch Sandkühlers als enormes Defizit - und sei es das
einzige - aufscheinen läßt. Die Phänomene der Globalgesellschaft und der
interdependenten Menschheit durch den Expansionismus der okzidentalen Staaten
sowie das Völkerbund-Kartell der 20er Jahre, auch der amerikanische
Weltherrschaftsanspruch hätten eine Klärung im Sinne der Darstellung einer
Verwurzelung amerikanischen Denkens im deutschen philosophischen Denken erfahren
können, die John Dewey (1859-1952) - Verfechter einer globalen "Lehre von
der Demokratie" - gewiß Angst und Schrecken bereitet hätte. Diese Denker
wanderten mit zentraleuropäischen Ideen aus, die schließlich auf dem
nordamerikanischen Kontinent so richtig Feuer von tatsächlich globaler
Tragweite fingen. Nach vollendeter Lektüre dieses Handbuchs von Sandkühler
kann festgehalten werden: Das wichtigste Verdienst desselben ist es, die
Differenzen und Schnittmengen der unterschiedlichen philosophischen Schulen -
abgesehen von den amerikanischen - beschrieben zu haben.
Seit der Entdeckung des "Ältesten Systemprogramms des Deutschen
Idealismus", dessen Manuskript in der Handschrift Hegels auf einer Auktion
im März 1913 von der Königlichen Bibliothek zu Berlin erworben wurde, kommt
der idealistischen Schule ohnehin neue Bedeutung zu und ist auch Hölderlins
Rolle stärker beachtet worden, womit ein eigenes Kapitel zu Hölderlin in
diesem Handbuch zurecht eine der wichtigsten Personen deutscher
Geistesgeschichte neu würdigt und einem allgemeinen Trend - auch im Deutschland
der Gegenwart - Rechnung trägt. Neben der Idee von der Menschheit, sowie den
Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die im freien Geist beheimatet
sind, wird in diesem "Systemprogramm" der Idee der Schönheit unter
besonderer Berücksichtigung der Poesie eine herausragende und verbindliche
Rolle zugeschrieben. Es bleibt abzuwarten, ob die Bedeutung dieses Manuskriptes
steigen wird.
In diesem Sinne bleibt dem vorliegenden Buch zu wünschen, daß es einen Effekt
in Form des neuen Nachdenkens über deutsche Philosophie haben möge. Liegt es
mit den übersichtlichen Beschreibungen eines geistigen Phänomens in
Deutschland und Europa richtig, so muß zudem der Begriff ‚Deutscher
Sonderweg’ in Gänze neu reflektiert werden, denn dieser Weg war kein
destruktiver, militaristischer oder nationalsozialistischer, sondern in Wahrheit
ein von geistiger Reife bestimmter, konstruktiver und vom Geist der Liebe
geprägter Ansatz. Und so liegen unverändert die aktuellen geistigen Elemente
der deutschen Politik vorrangig in der Unterscheidung zwischen geistig
schaffendem Genius und formelhaft statischer Empirie begründet, die mit bloßer
Semantik, Begriffen und der Definition von "Dissidenten" Sachwalter
einer Depotenzierung grundlegenden Denkens überhaupt geworden ist, wie es die
Deutschen des 19. Jahrhunderts niemals zugelassen hätten.
Kurz: In Deutschland ist die Unendlichkeit der Reflexion das Ausschlaggebende.
Sie äußert sich in der Anerkennung dreier methodischer Konfigurationen zur
Betrachtung des Seins:
1. Die Empirische Realität, welche nur dann als annehmbar verstanden wird, wenn
sie sich konkret bewährt, wobei jede gegebene Erscheinung in ihrem Verhältnis
zur Idee gefaßt wird und damit grundlegend veränderbar ist.
2. Die Absolute Idealität, die sich auf das bloße Sollen, die unreflektierte,
dogmatische Normativität á la "Demokratie und Erziehung" (John Dewey
1916) richtet und eine monologe ausschließlich metaphysizierende Tendenz
besitzt.
3. Die Ideale Realität, die im Sinne einer umfassenden geistigen Synergie als
Vollendung des einst zersplitterten Zustandes gilt, in dem der Geist nunmehr das
Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen - man denke an die
"Zerrissenheit" Hölderlins - dialogisch transzendiert hat.
Normativität und Empirie versöhnen sich. Das führt zur Selbsterkenntnis des
Geistes, zur Selbstreflexion und zum Verlassen des Stadiums des bloß
Gesinnungsmäßigen.
Die Deutschen verstanden also ihre Welt als gesetzte Welt, hervorgehend nicht
aus einem materiellen Antrieb der Extension, zu dem ihn die amerikanischen
Abkömmlinge verfremdeten, sondern aus dem Antrieb zur Intension, der durch die
Materialität zur Idealität, durch die Natur zur Freiheit, durch die
kausal-bedingte zu einer intelligiblen Welt durchzubrechen befähigt war - und
ist. Der Deutsche Idealismus ist damit ein Phänomen von unverändert aktueller
Tragweite für diejenigen, denen das Leben wesentlich durch Denken und Geist
konstituiert ist. Das Buch von Sandkühler ist ein überfälliger erster Schritt
dahin, dies neu aufgezeigt zu haben. Weitere Schritte stehen noch aus.
Fazit
Der Deutsche Idealismus ist ein philosophisches Phänomen von unverändert
aktueller und umfassender Tragweite für diejenigen, denen das Leben wesentlich
durch Denken und Geist konstituiert ist. Das Buch von Sandkühler ist ein
überfälliger erster Schritt dahin, dies neu und übersichtlich aufgezeigt zu
haben.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 16. April 2007 2007-04-16 08:06:15