Die 16-jährige Levke und ihre Mutter Barbara wohnen noch nicht lange in dem
kleinen Ort an der Ostseeküste zwischen Lübeck und Wismar. Levke ist froh,
dass sie in Henrys Surfschule im Büro jobben kann; denn für einen
Ausbildungsplatz mag sie sich noch nicht entscheiden. Barbara dirigiert derweil
das Renovierungs-Chaos in ihrem heruntergekommenen Bauernhaus. Zwei polnische
Arbeiter werkeln seit Wochen in der Ruine, ohne dass ein Fortschritt zu erkennen
ist. Doch die ländliche Idylle findet ein jähes Ende, als Henry eines Tages
tot am Strand gefunden wird. In der kurzen Zeit bis zu Henrys Beerdigung findet
Levke heraus, dass Henry in den sieben Jahren, die er an der Küste lebte,
keinen einzigen Freund gewonnen hat. Mit einer Ausnahme: Barbara und Henry
scheinen sich von früher zu kennen. Barbara hat neuerdings Geheimnisse vor
Levke, so dass die 16-Jährige sich fragt, ob ein neuer Lover im Leben ihrer
Mutter aufgetaucht sein könnte. Levke hat zunehmend den Eindruck, dass Barbara
sie aus dem Haus haben und zu Levkes Vater Mike nach Berlin abschieben will. In
Berlin eine Lehrstelle zu suchen, ist keine schlechte Idee - doch was soll
diese verdächtige Eile?
Dass Barbara Ihre Vergangenheit so vehement vor ihrer Tochter verheimlichen
will, weckt den detektivischen Spürsinn der 16-Jährigen. Levke reist nach
Berlin, um von der Wohnung ihres Vaters aus in der Hauptstadt nach Barbaras und
Henrys Geschichte zu forschen. Levkes Vater Mike ist von dem Interesse seiner
Tochter an alten Geschichten aus seiner Jugend wenig begeistert und auch er
scheint Levke dringend etwas verheimlichen zu wollen. Dass 1975 in Berlin
mehrere spektakuläre Gewalttaten von gewalttätigen linken Gruppen verübt
wurden, hat Levke irgendwann einmal in der Schule gehabt und bald wieder
vergessen. Erst als die Sechzehnjährige die Ereignisse von damals selbst im
Internet recherchiert, fallen die einzelnen Teile des Puzzles in ihrer
Vorstellung an ihren Platz. Levke ahnt nun, welches brisante Geheimnis Barbara
und ihre alten Freunde verbergen wollen.
Parallel zu Levkes Erlebnissen in einem besonders ungemütlichen deutschen
Sommer erzählt Gina Mayer von der Studentin Mo, die 1974 ein
Publizistik-Studium in Berlin beginnt. Anders als erwartet, erweist sich das
Studium in der Großstadt als wenig glamourös für Mo. Mo verliebt sich in
ihren Kommilitonen JJ und gerät durch ihn in eine gewalttätige linksgerichtete
Gruppe. Mo ist sich klar darüber, dass JJ Frauen nur ausnutzt und bringt es
trotzdem nicht fertig, sich von ihm zu trennen. Sie lässt ihr Studium schleifen
und zieht schließlich mit den Mitgliedern aus JJs Gruppe zusammen. Schon von
der ersten Seite des Jungendkrimis an rätselt man als Leser, wer wohl Mo ist
und wie sich ihr Leben in der Zwischenzeit weiter entwickelte. Gina Mayer legt
Fährten für ihre Leser aus, überrascht sie mit unerwarteten Wendungen und
führt Mos Geschichte zu einem dramatischen Schluss.
Dass Levke in Berlin immer im passenden Augenblick ganz zufällig auf jemanden
trifft, der sie unterstützt oder sich an die Ereignisse der 70er erinnern kann,
überzeugt nicht vollständig. Eine entscheidende Rolle für die Handlung nimmt
der junge polnische Arbeiter Tom ein. Durch die Begegnung mit ihm lernt Levke,
neben ihren eigenen Probleme zum ersten Mal die Situation anderer Menschen
bewusst wahrzunehmen. Die Atmosphäre unter Studenten der 70er Jahre trifft die
Autorin gekonnt. Mit wenigen gängigen Sprüchen der 70er, wie z. B. "Es
ist unverantwortlich, Kinder in diese Welt zu setzen", entlarvt die Autorin
das damalige Schwarz-Weiß-Denken derer, die die bestehende Gesellschaft
zerstören wollten, ohne zu wissen, welche Gesellschaft sie statt der verhassten
Ordnung wollten. Die Geschichte der Rote Armee Fraktion gibt den Hintergrund des
Buches ab, ohne die Handlung zu stark zu dominieren. Eine sehr gelungene
Kombination für einen spannenden Jugendroman, finde ich. Die Autorin lässt
Levke die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart begreifen und
stellt in der Schluss-Szene eine selbstbewusste, kritische Tochter einer Mutter
gegenüber, die selbst mit 20 Jahren weder selbstbewusst noch kritisch war.
Fazit
"Mörderkind" verknüpft eine spannende Krimihandlung mit der
überzeugenden Entwicklungsgeschichte einer kritischen Sechzehnjährigen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 19. November 2009 2009-11-19 10:23:54