Kein Mensch hat ein augenblickliches Bewußtsein von allem, was er jemals
erlernte, obschon es unbewußt in ihm liegt, um bei geeigneter Frage in sein
Bewußtsein zu treten. Der Geist erkennt, das Sein ist, aber nur das Leben lebt.
Selbst Menschen von immer rechenbereiter Nüchternheit werden sich wenigstens
aus ihrer Jugend erinnern, daß es ein Erwachen gibt, wo die Seele sich wie aus
schützenden Mutterarmen an das Licht gerissen glaubt und wo Anklänge in
Träumen an diese Situation "zurückerinnern".
Der Psychologe C. G. Jung war sein Leben lang Gnostiker, jemand, der mit
spiritueller Beherztheit und intellektueller Disziplin sich der Erkenntnis
seelischer und träumender Wirklichkeit aufgrund von unmittelbarer Erfahrung und
persönlicher Offenbarung verschrieben hatte. Jung erforschte stets sein
Bewußtsein, seine Träume und Erinnerungen. Gemäß seiner Neigung zur
Selbstanalyse entschloß er sich deshalb zu Lebzeiten zu einem riesigen Prozeß
eines Selbstexperimentes.
Seit fast 50 Jahren weiß man von der Existenz des Ergebnisses dieses Prozesses:
Das "Rote Buch". Jetzt ist das Vermächtnis des Schweizer Philosophen
und Psychologen veröffentlicht worden - ein psychologisches Meisterwerk in
literarischer Form. Die Erben hielten das Buch unter Verschluß, zuletzt in
einem Banktresor. Es handelt sich um eine komplexe Abhandlung versehen mit
Kalligraphien und Zeichnungen, welche die Träume und Fantasien des Analytikers
wiedergeben.
Jung erklärt darin die Wiederkehr Gottes in Form der Seele und geht zugleich
von einem kollektiven Unbewußten aus als gemeinsames psychisches Erbe. So
postuliert er eine universale Struktur der Psyche der Menschheit. Mit Ludwig
Klages wissen wir, daß das träumende Bewußtsein eine Spielart des Wachsenden
ist, daß wir Geträumtes während wir träumen für wirklich halten. Es ist das
Merkmal der Traumstimmung, ein Gefühl des Fernseins zu haben. Jung nahm seine
Träume und Fantasien sehr ernst - auch nach dem Prozeß des eigentlichen
Träumens. Er zeichnete sie im "Roten Buch" auf. Das Ergebnis ist
dieses in Form einer mittelalterlich illuminierten Handschrift gestaltete Buch.
C. G. Jungs handgeschriebenes und gemaltes einzigartiges Vermächtnis ist
Ausdruck einer Überschneidung von psychologischen und künstlerischen
Experimenten, in welchen er wiederum selbstanalytisch das Wesen der
Selbsterkenntnis, das Wesen der Seele, die Beziehung zwischen Denken und
Träumen sowie das Verhältnis zwischen innerer und äußerer Männlichkeit
analysiert.
Dargeboten wird das Rote Buch von Jung als ein in rotes Leder gebundenes Buch,
welches später als Auseinandersetzung mit dem Unbewußten bekannt wurde. Der
Inhalt besteht konkret zum Teil aus Texten, Imaginatioen (Wachphantasien) und
Reflexionen darüber, zum Teil mit vom Autor selbst gemalten Bildern. Als
Generalthema tritt die Suche des Autors nach seiner eigenen Seele auf und der
Versuch, die zeitgenössische spirituelle Erschlaffung gestärkt zu überwinden.
Erreicht wird dies dadurch, daß die Wiedergeburt eines neuen Götterbildes in
der Seele möglich gemacht wird. Das Unbewußte wird dabei als die Quelle der
abschließenden Weisheit gesehen.
Im Gegensatz zu den zumeist wissenschaftlichen Werken, in welchen sich Jung an
den Regeln der distanzierten Betrachtungsweise orientiert, dokumentiert das Rote
Buch subjektive Imaginationen, persönliche Eindrücke und Emotionen, an denen
er 16 Jahre schrieb und malte. Der Wert des Werkes aber wird erst jetzt vollends
deutlich: Das Rote Buch ist für das Verständnis von Jungs neuem
Psychotherapiemodell von größter Bedeutung. Das Vorliegen mythischer
Phantasien betrachtete er beispielsweise am Anfang als Anzeichen, daß die
Schichten des Unterbewußten sich lösen - und als Hinweis auf Schizophrenie.
Durch das Selbstexperiment des Roten Buches änderte sich diese Haltung
fundamental: Es galt ihm nicht mehr das Vorliegen eines Inhalts als
entscheidend, sondern die eigene Haltung, die das Individuum selbst dazu
einnimmt und vor allem, ob der Betreffende solch ein unterbewußtes Material
oder den Stoff des Traumes subjektiv in seine Weltsicht konstruktiv integrieren
kann.
Fazit
Jung gelang dies. So gewann er seine Seele wieder und schuf dabei eine neue
Psychologie. Dieser gesamte Prozeß, der Weg dorthin, liegt nun in einer
beeindruckenden und ästhetisch hochwertigen Schmuckausgabe vor. - Man kann
sagen: Das Selbstexperiment ist geglückt!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 10. Oktober 2009 2009-10-10 16:04:50