Der Philosoph Max Scheler hat in seinen 53 Lebensjahren ein großes Werk
hinterlassen. In der Frühphase waren es Schriften zur Religionsphilosophie, die
mit dem Hauptwerk "Probleme der Religion. Religiöse Erneuerung"
(1921) ihren Höhepunkt finden. Der Erste Weltkrieg versetzte ihn in eine
nationale Euphorie. In dieser Zeit legte er den Text "Die Ursachen des
Deutschenhasses" (1917) vor. Der Text ist - wie man zunächst nicht
vermutet - durchaus aktuell und vor allem aufgrund seines analytischen Umgangs
mit der ihm gestellten Frage überaus informativ.
Um den Kontext dieser Schrift ernst nehmen zu können, muß der Leser davon
ausgehen, daß auch 2009 vermeintlich überwundene Stufen politischen und
philosophischen Denkens unverändert bedeutsam sind - und sei es allein deshalb,
weil es einen argumentativen Mehrwert darstellt, sie vernommen zu haben. Wichtig
dabei ist: Es zählt nicht die vermeintliche Klugheit derer, die später geboren
sind und damit die Geschichte aus der nachträglichen Perspektive immer klüger
bewerten können. Nein, es geht nicht um jene, welche die vorliegende Schrift
als veraltet abtun und die oftmals die Geschichte aus einer besonderen Hybris
der Spätgebornen heraus beurteilen, als wären sie damals selbst beteiligt
gewesen. Nein - darum geht es nicht. Es zählt allein die Analyse des
Gesamthasses gegen die Deutschen im 1. Weltkrieg und danach, um ein Wissen
herbeizuführen, das einem historischen Gesamtverständnis unverändert
förderlich ist.
Für Scheler ist der Haß der Mittelmächte ein Haß der Peripherie gegen die
Mitte, gegen das Herz Europas im Sinne des moralischen Mittel- und Quellpunktes
derjenigen europäischen Institutionen, unter deren Herrschaft Europa den Rang
eines Führers der Menschheit erhielt. Der dieser Lage angemessene
kosmopolitische Geist und die besondere Fähigkeit der Deutschen, Fremdes zu
verstehen und dieses nach den Regeln des Fremden positiv im Eigenen einzuordnen
und entsprechend den höheren Anlagen auch der Ausländer in Deutschland
umzubilden - dies mache die besondere staatskonstruktive Begabung der Deutschen
aus. Sie zu erkennen, muß man sich nur die vorbildliche Integration
französischer Hugenotten in Preußen vor Augen halten.
Als Reaktion auf die Krisensituation des Krieges und später der Weimarer
Republik mit ihrer Spaltung in rechte und linke Denkweisen, bildete sich
insbesondere über Scheler jene spezielle Wissenssoziologie heraus, die Regeln,
Typen und Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und seiner emotionalen Haltungen
untersuchte. Es scheint dabei als sei es das analytische Prinzip Schelers
selbst, daß die Aktualität der vorliegenden Studie untermauert. Scheler war
nämlich davon überzeugt, daß gegensätzlichste Positionen nebeneinander
existieren und zum Ausgleich finden können, indem sie anerkennen, daß ihre
unterschiedlichen Standpunkte aufeinander bezogen seien und nur in Relation
zueinander ein ideologiefreies Bild der Wirklichkeit abgeben. So stellt also
Schelers Position zur Ursache des Deutschenhasses selbst eine sehr glaubwürdige
Position dar, welche die heutige Hysterie antideutscher Affekte selbst in der
etablierten Politik verständlich macht und sie zu entkräften befähigt ist -
denn viel "Antideutsches" beruhe auf Mißverständnissen!
Der deutsche Nationalismus ist für Scheler nicht aus dem Zentrum deutschen
Wesens hervorgegangen, sondern als Schutzwehr gegen den französischen
Nationalismus der napoleonischen Zeit. Auch der deutsche Kapitalismus sei nicht
aus deutschem Wesen autonom entsprungen, sondern erst dann entstanden, als der
Eintritt der Weltwirtschaft in den Konkurrenzkampf erfolgte und das deutsche
Gegenseitigkeitsprinzip verdrängte. So war es in der Tat gerade in Deutschland
der christliche Korporations- und Gegenseitigkeitsgedanke, der den Handel sowie
das Bild vom "Ehrbaren Kaufmann" prägte.
Mehr noch: Um das Fundament des Hasses gegen die Deutschen zu erklären, findet
Scheler eine einfache aber anschauliche Formel. Die Deutschen hätten ihre
Nachbarn aus ihrem Paradies vertrieben. Dieses Paradies sah für alle Völker
verschieden aus: Im Osten war es mehr Träumen, Sinnen, Fühlen und stilles
Sichbeugen unter das Joch des Schicksals, aber auch derbes und ordnungsloses
Genießen von Alkohol. Für die Engländer war es nach alter siegesgewisser Art
eines Seefahrer- und Händlervolkes das Kaufen, Verkaufen ohne Anpassung an den
Kundenbedarf, dazu der Sport, die Wette, die Spekulation (man denke an das
heutige Desaster der Finanzmärkte und seinen Ausgangspunkt) und das Reisen in
Verbindung mit dem insularen Sonderbewußtsein. Dasselbe Paradies hieß für
Frankreich Finanzreichtum, wenig Kinder, Luxus, sensible und amoureuse Abenteuer
sowie schöne Frauen.
So kommt Scheler zu dem Ergebnis: Dem Ausland fehlte es in Deutschland an einem
entsprechenden Glanze. Das deutsche Gepräge war das eines schlichten
Arbeitsmannes, der nach innerem Zeugnis handelt, ohne jemanden übertreffen zu
müssen, ohne nach der Arbeit grenzenlos genießen zu müssen. Dazu treten die
Stetigkeit, die Genauigkeit, die Pünktlichkeit, die pure Freude an der Arbeit
ohne stets deren Ergebnis genießen zu müssen. So entstand in Deutschland durch
das rastlose Tun eine gewisse Konkurrenz dieser zentraleuropäischen Lebensmasse
gerade durch ihre Erfolge, resultierend aus dieser Tüchtigkeit.
Mehr noch: Die besondere deutsche Art ist es in der Analyse Schelers, daß
Arbeit und Freude verknüpft sind, die rationale Organisation der Arbeit wird
ihr seelischer Motor. Die Arbeit selbst wäre stetige Freudenquelle und dies
nicht einmal um einen Luxus als Endpunkt zu erreichen. Das Ergebnis ist klar -
eine schnelle Industrialisierung ohne das Prinzip künstlicher
Bedürfniserweckung, d.h. sinnloser künstlicher Bedürfnisse, die Konsumenten
zum Kauf nötigen und von denen die Werbung heute geschwängert ist. Es handelte
sich in Deutschland um ein Übermaß an Energie, das über ihren Zweck
hinausgeht und damit besonders erfolgreich und bescheiden zugleich war. Hinzu
tritt noch ein wesentlicher philosophischer Gedanke: Die Deutschen stehen für
eine Art der Vervollkommnung als stetes Werden - ohne einen vollkommenen Zustand
des Luxus und den damit einher gehenden moralischen Verfall zu erreichen.
Soweit, so überzeugend und schlüssig. Jetzt ließe sich dies noch durch die
deutschen Philosophen untermauern, etwa bei der Kategorie der Pflicht. Deutsche
Philosophen betrachteten Natur als Material unendlicher Pflicht (Hegel), als
Triebrad des unendlichen Lebenswillens (Schopenhauer) und als Mittel zu
grenzenloser Macht (Nietzsche). Kurz: Für Scheler war es die heroische
Glücksverachtung des Deutschen, die die Deutschen frei machte und vor allem
gelassen gegenüber konsumistischen und ideologischen Glücksversprechen des
materiellen oder liberalistischen Heilzustandes. Eine besondere Auffassung von
Freiheit, Dienst, Volk und Staat kommt abschließend hinzu: Die deutsche Idee
der Freiheit hat nicht ihren Platz in der öffentlichen und politischen Sphäre,
wie in den politischen Systemen des damaligen "Westens", sondern
allein im Denken und Schauen, in strenger Facharbeit, in Familie und Heim. Sie
zielt nicht auf die Gleichheit aller, sondern darauf, was alle unterscheidet.
Man mag hier nur an die gewisse Häuslebauermentalität oder die individuelle
Freiheit des Christenmenschen nach Martin Luther denken, um diesen Aspekten eine
Wahrheit abzugewinnen.
Wenn Martin Heidegger, der Zeitgenosse Max Schelers, davon spricht, daß Scheler
nicht nur "die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland,
nein, im heutigen Europa" sei, so ist dieser Aussage eigentlich nichts mehr
hinzuzufügen. Max Scheler repräsentiert in seinem Denken auf eine
paradigmatische Weise die philosophischen Bemühungen und kulturellen
Aufbrüche, wie sie sich im Übergang zum 20. Jahrhundert artikulieren.
Fazit
Die vorliegende Schrift ist ein sehr überzeugendes Beispiel dafür. Sie macht
auch heute noch ihren Leser darin firm, selbst zu denken, sich vom puren
bedürfnisbefriedigenden Konsumismus frei zu halten und in verwurzelten und
korporativen, d.h. auch subsidiären, Lebenskonzepten ein unabhängiges Dasein
für Heim und Familie zu schaffen. Sei dies nun die viel gefürchtete
"deutsche" Haltung, oder einfach eine Haltung, die einst
"deutsch" war, aber aktuell überhaupt nicht verwerflich, sondern an
sich korrekt und überhaupt moralisch hochwertig ist - man mag es drehen und
wenden: Es ist am Ende eine Lebenshaltung, mit der man im Leben als freier
Mensch auch im Rahmen institutioneller oder politischer Knechtschaft weiter
kommt. Scheler gibt am Ende den sehr konstruktiven Rat, eigene Haßgefühle
selbst zu beherrschen, den eigenen Weg unbeirrbar zu gehen und nicht als
hochmütiger Schaumschläger zu leben - sondern als bescheidener Mensch
glücklich und gläubig zu sein.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 09. Oktober 2009 2009-10-09 17:17:31