Dai Wei wurde bei der Niederschlagung des Studentenprotests auf dem Pekinger
Tiananmen-Platz 1989 von einer Polizei-Kugel getroffen und liegt seitdem im
Koma. Der in seinem Körper begrabene Patient nimmt Gesprächsfetzen wahr und
empfindet seine Umgebung mit wachen Sinnen, er kann sich jedoch nicht äußern.
Bilder aus Gegenwart und Erinnerung, sowie Ausschnitte aus seinem Lieblingsbuch
überlagern sich in Dai Weis Gedanken. Er erinnert sich an das Erdbeben von
1976, an seinen ersten Kuss und an seine Studentenzeit als er mit einem
Kommilitonen gemeinsam im selben, raren Buch las. Dai Wai erinnert sich an seine
Familie wie an den Kampf zweier verfeindeter Systeme. Die Kindheit des Studenten
war geprägt von der zwanzig Jahre dauernden Lagerhaft seines Vaters und nach
dessen Tod von den ewigen Ermahnungen der Mutter, aus dem Schicksal des
"Rechtsabweichlers" seine Lehre zu ziehen. Während Dai Weis Vater
sich für seine Söhne wünschte, dass sie ins Ausland gehen und zu Weltbürgern
werden, kritisierte die Mutter, dass ihr Mann die Jungen damit nur auf dumme
Gedanken bringe. Für die moralische Erziehung waren in der Familie Dai
Revolutionsopern der Mao-Zeit zuständig. Das Ausmaß der Grausamkeiten
während der Lagerhaft seines Vaters wird Dai Wei erst Jahre später beim
Gespräch mit einem Zeitzeugen klar. Auch dass die Täter von damals heute
wieder in bedeutenden Positionen anzutreffen sind, erkennt der junge Mann erst
allmählich. Ein kleines Fenster zur nicht-sozialistischen Welt öffnet sich
führ ihn während der kurzen Beziehung zu A-Mei, die aus Hongkong stammt und
mit westlichen Werten aufgewachsen ist. Dai Weis Erinnerungen wandern zur
Organisation des Studentenprotests auf dem Tiananmen-Platz. "Wenn der
Kaiser die Herzen der Leute verliert, verliert er auch sein Reich" war
damals ein Motto der protestierenden Studenten. Dass Dai Wei wegen seines
"politischen Hintergrunds" nicht im Krankenhaus behandelt werden darf
und seine Mutter mit der anstrengenden Pflege völlig allein gelassen wird,
führt schließlich dazu, dass auch sie ihrem Land verloren gehen und ihre
letzten Hoffnungen auf merkwürdige Wunderheiler setzen wird.
Das Bild vom nur formal sozialistischen Staat, der Einzelne aus der Gemeinschaft
ausschließt, ist eines der anrührendsten in Ma Jians 900-seitigem Roman.
Mithilfe des Tagebuchs seines Vaters setzt Dai Wei sich gegen den erklärten
Willen seiner Mutter mit seinem Vater auseinander. Aktuelle Themen der Gegenwart
wie Frauenhandel, Organhandel, die rigide Art mit der die Einkind-Familie von
den Behörden durchgesetzt wird, die Lebensbedingungen chinesischer Studenten in
den 80ern und der drohende Abriss der Hauses, in dem Mutter und Sohn als letzte
noch ausharren, sind in die Handlung eingebunden. Dai Weis Mutter erhält außer
Geldüberweisungen eines Verwandten keine Unterstützung. Im Gegenteil, sie ist
Ziel von Bespitzelungen ihrer Nachbarn und wird regelmäßig am Jahrestag der
Ereignisse von den Behörden drangsaliert. Dass sich der Zustand des Patienten
kaum verändert und die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens
voraussehbar sind, lässt die Handlung nur mäßig spannend wirken. Am Ende
haben die Leser hinter die Kulissen der historischen Ereignisse schauen können
und eine Vorstellung davon bekommen, wie die Aktivitäten nicht nur der 19
Universitäten der Stadt Peking sondern zahlreicher weiterer Proteste
koordiniert wurden. Im sehr lesenwerten Nachwort erläutert Susanne Höbel, die
Ma Jians Roman aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, wie es zu der
ungewöhnlichen Länge des Romans gekommen ist. (
Brüder mit über 700 Seiten und
Ein freies Leben mit über 600 Seiten sind ähnlich umfangreich.)
Fazit
"Peking Koma" erweist sich als anstrengende und dennoch lohnenswerte
Lektüre, die in zwei stilistisch gegensätzlichen Handlungssträngen Einblick
in bisher unbekannte Facetten des Lebens im China der letzten 20 Jahre gibt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. September 2009 2009-09-28 19:34:24