Norbert Frei gehört zu den besten Kennern des Dritten Reiches. Sein Buch:
"Der Führerstaat" zählt zu den besten konzentrierten
Gesamtdarstellungen über das Dritte Reich. Aus Anlass des 60. Jahrestags des
Kriegsendes legt er nun - in Anlehnung an sein bereits 1997 vorgelegtes Werk:
"Vergangenheitspolitik" eine - kritische - Bestandsaufnahme über das
Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen vor. Frei konstatiert, dass einerseits
sechs Jahrzehnte nach dem Ende des "Dritten Reiches" die Vergangenheit
gegenwärtiger sei als je zuvor. Dies wird an der Flut der Publikationen über
das Kriegsende und das Dritte Reich - beispielhaft sei hier auf den Film:
"Der Untergang" verwiesen - deutlich. Doch jetzt beginnt auch die
Zeit, in der die letzten Zeitzeugen aussterben, indem Geschichte nicht mehr
erlebte Geschichte ist, sondern endgültige Vergangenheit. Niemand kann mehr
sagen: "Ich erinnere mich!". Schwer zu sagen, so Frei, mit welchem
Ereignis die Deutschen später einmal jene Zäsur in ihrem Verhältnis zur
Vergangenheit verbinden würden. Einiges spräche dafür - so der Autor - dass
es der Staatsakt werden könnte, mit dem in Berlin am 10. Mai 2005 das Denkmal
für die ermordeten Juden Europas eingeweiht wird. "Symbolpolitisch hat es
das noch nicht gegeben: dass eine Nation im Zentrum der Hauptstadt ihre
Verbrechen bekennt. Nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten Debatte markiert der
Zeitpunkt, an dem dies geschieht - zwei Tage nach der 60. Wiederkehr des
Kriegsendes in Europa -, auch für den Holocaust die Schwelle des Übergangs von
der Erfahrung zur Geschichte."
Dies ist Anlass für die kritischen und meines Erachtens überaus brillianten
Essays, mit dem Norbert Frei unser Verhältnis zur Vergangenheit, zum Dritten
Reich, untersucht. Er geht mit der Aufarbeitung der Geschichte in der
Bundesrepublik, insbesondere der Adenauer-Ära, durchaus kritisch ins Gericht.
Andererseits konstatiert Frei jedoch auch, dass die "skeptische
Generation" der Wehler, Walser, Grass und Habermas sich zwar geweigert
hätten, sich dem Selbstmitleid der nach-sozialistischen Volksgemeinschaft
anzuschließen und damit den Mut aufgebracht hätten, dem "fortlebenden
Hang zur Apologie" einen aufklärerischen Diskurs entgegenzusetzen.
Andererseits sei diese Aufklärung nicht "herrschaftsfrei" gewesen,
wie von jenen Historikern postuliert worden sei. Den einistigen Flakhelfern und
jungen Frontsoldaten sei es - so Frei - darum gegangen, ihre Sicht der Dinge zur
Deutungshoheit zu machen. Dies zeige sich nicht zuletzt im richtigen - und das
hieß: selbstkritischen - Sprechen über die Vergangenheit. Inzwischen zeige
sich - und dies hat etwa die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Ulla Roberts in
ihren bahnbrechenden Unterscuhungen zur "Enkelgeneration" gut
herausgearbeitet, dass diese Generation - aber auch Teile der 68-Generation, wie
Frei ergänzt - eine Bereitschaft zu milderem Umgang mit der Generation der
Väter neigt. Neugier und Anteilnahme lösen den Duktus der Anklage ab.
Vielleicht habe das Nachlassen der Abwehrhaltung der älteren Generation, ihre
zunehmende Bereitschaft, über die Vergangenheit zu sprechen, darin eine Rolle
gespielt. Publikationen wie diejenige von Günter Grass Novelle über den
Untergang der "Wilhelm Gustloff", "Krebsgang" werden von
Frei als Beispiele dafür benannt. Exemplarisch könnte hierfür meines
Erachtens auch Uwe Timms Buch: "Am Beispiel meines Bruders stehen",
welches Micha Brumlik im Mai-Heft der "Blätter für deutsche und
internationale Politik im Rahmen des Verhältnisses der Enkelgeneration zur
Generation der Großväter - die Befunde sind ähnlich wie die der beiden
Bücher von Ulla Roberts - untersucht.
Doch auch die weiteren Aufsätze und Feststellungen Freis sind interessant. So
sieht er mit wachsendem Unbehagen, dass seit der Abwahl der
"Flakhelfer", seit dem Ende der Ära Kohl, sich ein neuer Ton im
Umgang mit der Vergangenheit auch in der Politik breit mache. "Dabei ist es
von verstörender Ironie zu sehen, mit welchem Behagen sich die Generation
Schröder im Gnadenstand jener "späten Geburt" einrichtet, von
der...der Hitler-Junge Günter Gaus gesprochen hatte, noch ehe sich ein nur
wenig älterer Helmut Kohl damit in Israel blamierte." (S. 16). Die Kapitel
untersuchen im Anschluss an diese einleitenden Feststellungen Deutsche
Lernprozesse seit 1945, bilanzieren, das Epochenjahr 1933, der 30. Januar,
entschwinde dem historischen Bewußtsein, da sich die Forschung über das Dritte
Reich seit Ende der achtziger Jahre auf die Geschichte der Kriegsjahre, der
deutschen Besatzungsherrschaft in Europa und vor allem die
nationalsozialistische Vernichtungspolitik verlagert habe, wofür insbesondere
Namen wie Götz Aly beispielhaft stehen. Es seien mit wachsender
Ausschließlichkeit die Generationen der "Flakhelfer" und
Kriegskinder, die die Reste des derzeit so hochgeschätzten "authentischen
Diskurses" über die NS-Vergangenheit prägten. Ihre Erinnerungen richteten
sich auf die Erfahrungen des Bombenkrieges, auf Flucht und Vertreibung.
Augenscheinlich neigten sie dazu, es als einen Vorteil zu verstehen, an Hitler
keine persönliche Schuld zu tragen. "Das scheint die Erinnerung freier zu
machen: für das eigene Leid, vielleicht aber auch für "Ausschwitz"
und den Holocaust, der als das monströse Kernereignis der NS-Zeit und des
Krieges erst seit den neunziger Jahren in den Mittelpunkt der Wahrnehmung
gerückt ist." (S. 95). Freis Fazit ist sicher bedenkenswert: "Dass
wir den Nationalsozialismus inzwischen mehr von seinem Ende als von seinem
Anfang her verstehen, mag man einen Paradigmenwechswel nennen. Jedenfalls ist,
was das Interesse der Welt an der "deutschen Katastrophe" im 20.
Jahrhundert aufrechterhält, nicht länger "1933", das Ende einer
parlamentarischen Demokratie unter dem Druck einer totalitären Bewegung,
sondern der Völkermord an den europäischen Juden. Zugleich scheint der
Holocaust zum verbindenden Element einer europäischen Erinnerung an den Zweiten
Weltkrieg zu werden, die begonnen hat, sich von nationalen Mythen und
Lebenslügen der Nachkriegszeit zu trennen. Über Europa hinaus wird der
Holocaust inzwischen als globale Mahnung verstanden, genozidalen Entwicklungen
rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Das ist wenig genug, aber vielleicht mehr, als
viele von uns vor nicht allzu langer Zeit, sagen wir 1983, zum 50. Jahrestag der
nationalsozialistischen Machtergreifung, erhofft und erwartet hätten." (S.
96).
Fazit
Man mag die Beobachtungen Freis im Einzelnen nicht teilen oder anderer Meinung
sein. Das Buch regt zum Nachdenken über den Umgang mit unserer jüngsten
Geschichte an und gehört neben Stefan Austs und Gerhard Spörls Spiegel-Titel:
"Die Gegenwart der Vergangenheit", in der Zeitzeugen zum Geschehen des
Dritten Reiches interviewt werden, zum für mich wichtigsten, was in letzter
Zeit über dieses Thema geschrieben worden ist. Daher wirklich lesenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 05. Mai 2005 2005-05-05 10:37:39