Zwei Dinge sind es, die das Gemüt des Philosophen Immanuel Kant immer wieder in
Bewunderung und Ehrfurcht versetzten: "der bestirnte Himmel über mir und
das moralische Gesetz in mir". Beides, die Frage nach der Möglichkeit der
Naturerkenntnis wie auch Fragen des sittlichen Handelns, haben zeitlebens seine
philosophische Reflexion herausgefordert. Mit diesem Zitat Kants beginnt nun
auch der vorliegende Roman. Dies läßt bereits seinen lebenserfahrenen Duktus
erahnen, der das ganze Buch durchstreift. So ist La Sapienza ein besonderes
Werk, das als Berliner Roman überdies eine explosive Mischung aus den
unterschiedlichsten Wissenschaften darbietet: Recht und Gesetz, Medizin und
Psychologie, Sex und Partnerschaft, Philosophie und Skepsis. Sie verbinden sich
zu einer literarischen Melange aus philosophischer Reflexion und empirischer
Lebenserfahrung.
Die Spannung zwischen Natur und Freiheit, Naturgesetz und Sittengesetz, zwischen
Sein und Nicht-Sein ist unaufhebbar. Sie muß in immer wieder ihren neuen
Austrag erhalten. Diese skeptische Sicht ist bei Kant mit der fortschrittlichen
Hoffnung verbunden, die Entwicklung des Menschengeschlechts möge und könne
dahin gehen, der faktischen Wirksamkeit des Sittengesetzes und damit der
Freiheit immer mehr Raum zu verschaffen. Recht und Staat gehören bei Kant
strengstens zusammen. Legales Recht ist nur im Staat, und der Staat ist nur
legitim als Rechtsstaat. Ihrer beider Zweck richtet sich darauf, die sittliche
Gemeinschaft freier und gleicher Individuen mit seinen immer nur äußeren
Mitteln zu fördern. Gäbe es die Natur nicht, so wären alle Menschen so
moralisch, daß es den Staat nicht geben müßte. Gerade aus der unbedingten
Gültigkeit des Sittengesetzes folgt also wegen des fortbestehenden Antagonismus
mit dem Naturgesetz in Ansehung der Endlichkeit der menschlichen Vernunft, daß
jede Politik stets eine relative ist. Eine absolutistische oder
revolutionär-despotische Politik verletzt das Sittengesetz, die Würde der
Person und die Menschlichkeit der Vernunft.
Der vorliegende Roman liefert eine vergleichsweise Darstellung des Kampfes um
die begehrte Macht der Existenz, der Liebe und der Politik. Sie wird getragen
von der Hauptperson des Romans, deren Wege sich an einer römischen Universität
mit einer faszinierenden Ärztin kreuzen. Einen Sommer lang liebten sie sich.
Doch die Geschichte mündet in ein Drama, in welchem sich die Figuren der
Aussichtslosigkeit des Ganzen bewußt werden und die Hauptperson wieder nach
Berlin zurückkehrt, um ein neues Leben zu beginnen.
Die einzelnen Kapitel werden stets eingeleitet von einem sie tragenden Diktum
bekannter Schriftsteller. So etwa Marcel Proust, Erich Mühsam oder Antoine de
Saint-Exupérie. Interessant sind die Anknüpfungen an die Deutsche Philosophie,
insbesondere an Hegel. Das Eigentliche des Lebens ist demnach, daß es keine
objektive Vorstellung, sondern ein Sein im Sinne einer höchsten Synthesis und
Vereinigung bei gleichzeitiger Differentiation und Dissoziation dieser Synthesis
gibt. Die Dialektik ist nicht ein bloß äußerliches, negatives Tun, sondern
sie bedeutet das positive, immanente Hinausgehen über die Einseitigkeit und
Beschränktheit der Verstandesbestimmungen.
So landet die Hauptfigur auf einem Fest unter Malern, Lesben, kreativen Frauen
und Männern, hört sich deren Gedanken über die Liebe, ihr Fühlen, ihre
Schriftsteller-Helden an und zieht in einer nächtlichen Reise die Konsequenzen
für sein persönliches Leben. Auch hier gibt es vergangene Philosophen, die ihm
helfen, seine männlichen Emotionen zu verstehen, ebenso wie die weiblichen. Und
wenn auch Wirklichkeit und Erfindung sich vermischen, so zeugt dies von der
enormen philosophischen Kenntnis des Autors, der seine Figur die Summe all der
Widersprüche im Leben, die ihn in manchen Situationen lähmen oder auf die
Höhe führen, spüren läßt. Und er läßt die Frauen Revue passieren, die ihm
wichtig sind, eine mit der anderen verbunden, wie Glieder einer Kette. Jede
Geschichte, der Bedeutung zukam, hatte ihrer Natur nach zwei Gesichter. So
erlebt der Romanheld am eigenen Leibe die Differenziation und potentielle
Synthesis der empirischen Ereignisse. -
Mit einer funkensprühenden Konsequenz: Sich in das Theater der Menschheit und
des Lebens zu stürzen, mit dem Auf und Ab zu spielen und in schwankenden Betten
zu lernen, welches die wahren Gesetze des Lebens sind. Eben: Die Differenzierung
und gleichzeitige Einheit zu erkennen.
Fazit
Ein sehr weises Buch, voller philosophischer Kenntnis und damit verbundener
Lebenserfahrung, die sich in einer Geschichte bündeln, die den Leser bis
zuletzt fesselt.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 26. September 2009 2009-09-26 12:04:15