Bei dem vorliegenden Essay von Daniil Granin handelt es sich sicherlich um ein
Jahrhundertwerk. Ausführlich beschreibt der Autor das Phänomen der Angst,
welches besonders im Stalinismus sehr ausgeprägt war: "Die sind
Aufzeichnungen über die Angst. Die ANGST, die einen so großen Raum in meinem
Leben einnahm, die so wunderbare geistige Impulse in meiner Generation
erstickte, unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere
Erinnerungen hinterließ. Die Angst hat unser Leben viel zu sehr beherrscht. Ich
will mit diesem Gefühl abrechnen, will mich ihm stellen, ihm nicht weiter
ausweichen, sondern ruhig analysieren, was eigentlich dahintersteckt."
Granin, 1919 geboren, gehörte - vor und nach der Perestroika - zu den
berühmtesten russischen Schriftstellern. Seine literarische Qualität konnte
man in Werken wie: "Das Gemälde" oder "Sie nannten ihn Ur/ Der
Genetiker" immer wieder bstaunen. Er geriet mit seinem kritischen Geist
immer wieder in Konflikt mit der offiziellen Kulturpolitik in der früheren
Sowjetunion, ohne dass Granin ein Dissident geworden wäre. Er beschreibt sehr
eindrucksvoll sein Leben, insbesondere im Stalinismus. Seine Analyse der
"Angst" ist bis heute aktuell: "Die Angst veranlaßt begabte
Intellektuelle, sich von der Mutter loszusagen, ihre soziale Herkunft zu
manipulieren, sich um einen hohen Posten zu reißen. Hat man erst mal einen
hohen Posten, ist die angst vor der Entlarvung nicht mehr so groß. Die Angst
verfolgt den Menschen. Wir sind alle Kaninchen vor der Schlange. Kann man so
etwa kreativ arbeiten? Selbstverständlich nicht." Angst befiel den Autor
insbesondere während der deutschen Belagerung von Leningrad, dem früheren -
und jetzigen - Petersburg im Jahre 1941. Dabei unterscheidet er individuelle und
kollektive Angst, wobei letztere zur Panik führe (S. 32). Sehr eindrucksvoll
ist eine Geschichte über den von Stalin verfolgten Dichter Michail Sostschenko.
Dieser erzählte folgende Geschichte: Während der Leningrader Belagerung
begegnen sich unversehens deutsche und russische Aufklärer an der Front.
"Ohne Kommando sprangen die Deutschen auf der einen Seite in den
Straßengraben, die sowjetischen Soldaten uf der anderen. Ein deutscher Soldat
aber war so durcheinander, daß er zu densowjetischen Soldaten in den Graben
sprang. Er begriff seinen Irrtum nicht sofort. Erst als er neben sich Soldaten
mitroten Sternen erblickte, geriet er in Panik, fegte aus dem Graben und sprang
mit einem einzigen gewaltigen Satz, der das welkte Laub aufwirbelte, über die
Straße hinweg zu seinen Kameraden. Der Schreck hatte ihm ungeahnte Kräfte
verliehen... Bei diesem Anblick fingen die sowjetischen Soldaten an zu lachen
und die deutschen ebenfalls. Sie saßen sich gegenüber im Straßengraben, die
MP im Anschlag, und lachten aus vollem Halse. Danach konnen sie nicht mehr
schießen. Das Lachen hatte sie in einem menschlichen Gefühl vereint..."
Diese Geschichte offenbart Michail Sostschenkos Philosophie des Lachens. Lachen
als Befreiung vom Haß. Lachen als Mittel gegen die Angst. (S. 41/42). Soweit
Granin. Seine Aufzeichnungen über die Stalinzeit sind sehr eindrucksvoll. Alle
seine Erinnerungen kreisen um die Angst und den dadurch ausgelösten Mangel an
Zivilcourage, der diese Zeit wie ein Alptraum erscheinen ließ. Tim Guldiman hat
in seinem hervorragenden Buch "Moral und Herrschaft in der
Sowjetunion" (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984) von einer
Bewußtseinsspaltung des Sowjetbürgers gesprochen, einer Spaltung von Anspruch
und Wirklichkeit, die zum Rückfall in präkonventionelle Moralstrukturen
führe, einer Art "Double-Ethik" führten, wie sie auch
George Orwell in seinem
eindrucksvollen Buch "1984" geschildert hat. Die von Granin
geschilderten Erlebnisse beweisen die Richtigkeit der Thesen Orwells und
Guldimans. Dies wird eindrucksvoll am "Fall Sostschenko" gezeigt, den
bei seiner Verdammung niemand zu verteidigen wagte. Der Chefredakteur von
"Nowy Mir", der führenden sowjetischen Literaturzeitschrift, wagte
nicht, Erzählungen von Sostschenko zu drucken, obwohl er dies selber wollte:
"Bei Simonow [dem Chefredakteur von "Nowy Mir"] kam das vor: Er
konnte lange Zeit standhaft bleiben, und im letzten Moment kippte er doch um,
hielt den Druck nicht aus, und der Druck auf ihn war natürlich immens."
Wer die Psyche der russischen Bevölkerung verstehen möchte, kommt um dieses
Buch nicht herum, welches für mich neben
Rybakows "Die Kinder vom
Arbat" und Lydia Tschukowskajas "Sofja Petrowna" zu den
eindrucksvollsten Werken des Stalinismus überhaupt gehört.