Je schneller sich die Auswirkungen des modernen Zeitalters und das Credo vom
"permanenten Wachstum" hemmungslos ausbreiten, der Mißbrauch der
Möglichkeiten der virtuellen Welt einen Zustand hervorzubringen scheint, in dem
fast alles schon verschwunden zu sein anmutet, desto unausweichlicher nötig
werden die schöpferischen und konventionellen, um nicht zu sagen die
"langsamen", Menschen. Sie sind sich dennoch den Perspektiven des
modernen Seins bewußt, legen aber überdies genuine und traditionelle
Schöpfungskraft an den Tag. Denn die neue Welt kann nicht sein ohne die alten,
menschlichen und nicht technischen Fertigkeiten. Menschlichkeit ohne Modernität
ist lahm; Modernität ohne Menschlichkeit ist kalt. Modernität braucht
Menschlichkeit, Lyrik und das Anknüpfen-Müssen, denn Zukunft braucht eine
Heimat. Die Bindungslosigkeit ihrer Geschichts- und Ortsverwerfung nach dem
Kriege jedoch schlug die Deutschen scheinbar mit dem Verlust ihrer reichen und
schöpferischen Fähigkeiten.
Das ganze Gegenteil einer solchen Entwicklung und damit den Ausdruck einer
modernen Konventionalität und Schöpferkraft stellt das vorliegende und
überaus reife Buch "Sternbildsonate" des jungen Dichters Florian
Kiesewetter dar. Im Vertrauen darauf, daß in einem Leben der Ursprünglichkeit
und Wahrheit der Menschen nicht als Mechanismus sondern als Urquell und selbst
als Schöpfer des Lebens und seiner lyrischen Ausformungen agiert, liefert der
Dichter eine große sprachliche Leistung ab. Sie kann sich nur aus einer
besonderen Heimat- und Naturverbundenheit ergeben. Der Arnshaugk-Verlag hat
diesem schöpferischen Streben nunmehr die Möglichkeit der Veröffentlichung in
diesem Buch gegeben.
Kiesewetter selbst wurde 1989 in Nordhausen am Harz geboren. Nahe bei Nordhausen
liegt Mühlhausen, eine geschichtlich bedeutende Stadt, deren unzählige Kirchen
heute vor allem durch ihre innovativen Umnutzungsideen deutschlandweit Aufsehen
erregen. Als sei es ganz selbstverständlich, daß aus einer Region wie
Mühlhausen/Nordhausen, in der erstmals eine Kirche zur modernen Bibliothek
umgenutzt wurde und sich hier derartig konventioneller bibliophiler Anspruch mit
moderner baulicher Innovation verbindet, auch ein jugendlicher Dichter wie
Kiesewetter und sein lyrisches Gemüt kommen müsse.
Die erste Regung der Sittlichkeit ist oftmals Opposition gegen die
Oberflächlichkeit des Alltags und die herkömmliche Rechtlichkeit und - wie
auch im vorliegenden Buch - eine grenzenlose Reizbarkeit des Gemüts und des
lyrischen Gefühls. Die Zeilen des Buches sind entsprechend fest gereimt und
weisen eindeutige Klangfarben auf. Ein Hauch von humanistischer Prägung
verknüpft sich hier mit heimatlicher Verbundenheit. Entgegen der deutschen
Ortsverwerfung und den entortenden Tendenzen der Nachkriegszeit ist die
"Heimat" für Kiesewetter der Boden des Seins und der Harz ein
"holdes Sagenland".
Neben diesen auch mythischen Reminiszenzen sind es aber auch die rationalen und
mit Bedacht verharrenden Versatzstücke, die aus den Gedichten sprechen. Es sind
die Bedacht beim Erkundigen, das hauptsächliche Leben auf Erkundigung und das
Bewußtsein davon, daß es das Wenige ist, was der Mensch sieht, welche in
Kiesewetters Lyrik hervortreten. Im Gedicht "Was bleibt" heißt es
nüchtern aber immer noch suchend:
Sind die Zeichen nur noch Schatten,
Nutzlos blind und abgelegt,
Oder spricht, was uns bewegt
Aus den Sagen, die wir hatten?
Ist der Traum von Tausend Jahren
Eine Täuschung mit drei Nulln?
Sind es nichts als Dichter-Schrulln,
Wenn wir nach dem Grale fahren?
Der Mensch lebt in Ungewißheit auf Treu und Glauben. Selten gelangt die
Wahrheit rein und unverfälscht zum Menschen, am wenigsten, wenn sie von weitem
kommt. Dort nämlich hat sie immer eine Beimischung von den Affekten, durch die
sie ging. Neben dieser sachlichen Zurückhaltung sind es andererseits wieder
Gedichte wie das "Lilienstück", die einen ästhetisch-verspielten
Charakter tragen. Diese vielfachen Emotionen lyrisch zu verorten, darum geht es
dem Dichter, weit über persönliche Verletztheiten hinaus.
So mögen diese eindringlichen Gedichte für viele als vergeudete Zeit bewertet
werden, Kiesewetter im Gegenzug singt mit Eifer weiter und ist sich damit umso
mehr bewußt: Was wir sonst mit "Sprache" meinen, insbesondere der
deutschen Sprache, nämlich einen Bestand von Wörtern und Regeln der
Wortfügung, ist nur ein Vordergrund der Sprache. Er wird dem integralen
Sprachgebrauch im Gespräch und erst recht nicht im deutschen Gedicht bewußt.
Diese Einstellung zeichnet das vorliegende lyrische Debüt Kiesewetters aus.
Fazit
Und meinte Theodor Adorno noch, nach "Auschwitz" ein Gedicht zu
schreiben, sei barbarisch, so wissen moderne und heimatverbundene Leser
deutscher Lyrik mit diesem Buch - mal von Adornos Unfähigkeit zu dichten
abgesehen -, daß Lyrik und insbesondere deutsche Lyrik wieder eine Zukunft
haben.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 12. September 2009 2009-09-12 12:21:55