Karl Schlögel, Professor in Frankfurt / Oder hat seinen 1988 erschienenen
Klassiker "Petersburg: Das Laboratorium der Moderne: 1909-1921"
rechtzeitig zum 300-jährigen Jubiläum der Stadt neu aufgelegt. Es ist hier
nicht möglich, das über 700-seitige Werk umfassend zu würdigen. Es handelt
sich jedoch meines Erachtens um die beste Kultur- und Geistesgeschichte
Rußlands im Zeitraum 1909-1921, der über Rußland überhaupt existiert. Der
Autor zeigt auf, dass neben Paris, Wien und Berlin auch Petersburg für die
Geschichte der Moderne steht und es im 20. Jahrhundert zu einem ungeheuren
kulturellen und technologischen Aufbruch gekommen ist. Das Buch verläßt - so
der Autor in seinem in diesem Jahr neu geschriebenen Vorwort - die Fixierung auf
das Epochenjahr 1997 und nimmt eine andere Blickrichtung ein. Es gehe nicht
darum, willkürlich neue Eckdaten festzusetzen oder darum, zu bestreiten, dass
das Jahr 1917 wirklich eine Zäsur darstelle. "Das hier angegebene
Jahrzehnt fungiert als Brennglas, unter dem die Prozesse, Abläufe, Ereignisse
sichtbar werden sollen. Binnen eines Jahrzehnts hat Petersburg/Petrograd fast
alles ausgekostet, was einer Stadt im 20. Jahrundert widerfahren konnte:
ökonomischer Boom und ungeahnte kulturelle Blüte, Krise und Krieg, Revolution
und Bürgerkrieg, Zerfall jahrhundertealter Autorität und Etablierung einer
ganz neuen, von allen Hemmungen befreiten Diktatur, Hungersnot, Epidemien, aber
auch Leidenschaften und Enthusiasmus. In dem kurzen Zeitraum entfaltet sich und
explodiert, was eine lange Inkubatonszeit hinter sich hat, und es zeigt sich in
ersten Umrissen, was wenig später geschichtsmächtig und fast ein ganzes
Jahrhundert hindurch prägend werden wird."
Diese Leistung vollbracht zu haben, ist das Verdienst Schlögels. Ich habe noch
nie soviel über die Geistes- und Kulturgeschichte einer Stadt, ja eines Landes,
erfahren wie in diesem fulminanten Werk, welches Dietrich Geyer, Autor des
Klassikers über "Die Russische Revolution" in der "Zeit"
kürzlich zu recht als bestes Werk über Petersburg überhaupt genannt hat. Für
mich ist es das interessanteste Werk über die kulturelle Entwicklung Rußlands
in dem entscheidenden Jahrzehnt des Umbruches. Es trägt dazu bei, die
Geschichte Rußlands besser zu verstehen.
Fazit
Ein absolutes Standardwerk. Hervorragend!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 08. Juni 2003 2003-06-08 16:07:28