Der dreihundertste Geburtstag Petersburgs veranlasste mich, die sogenannten
"Petersburger Novellen" des neben Puschkin bedeutensten russischen
Dichters der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit Nikolai Gogol (1809-1852)
vollzog sich die entscheidende Wende in der russischen Literatur von der
Verskunst - etwa Puschkins - zur Prosa und so gehört Gogol zu recht zu den
Begründern des russischen Realismus und der sogenannten "natürlichen
Schule". Seine "Toten Seelen" sind zu recht Weltliteratur.
Auffällig an seiner Produktion ist seine literarische Vielfalt und seine
grotesk-fantastischen Erzählungen, die mich an
E.T.A. Hoffmanns "Kater
Murr" erinnern. In diesem Jahrhundert hat meines Erachtens erst
Michail Bulgakow mit seinem Roman
"Meister und Margarita" und "Hunderherz" in die Tradition
Gogols gestellt. Gerade "Hundeherz" und "Tschitscherins
Abenteuer" (Tschitscherin ist die Hauptperson in den "Toten
Seelen") beziehen sich auf die hier versammelten phantastischen Novellen.
Diese Phantastik ist kein Widerspruch zum Realismus der "natürlichen
Schule". Sie hat hier meiner Meinung nach keinen "eskapistischen"
Charakter, sondern dient der "Entlarvung einer sinnentleerten
Realität". Diese Äußerung aus dem Nachwort, bezogen auf die Hundeepisode
der zweiten Erzählung, "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", trifft
auf alle Novellen Gogols, die hier versammelt sind, zu. Lediglich die - weniger
gelungene - Erzählung "Das Portrait" fehlt in dieser Sammlung. Das
Gemeinsame an den Erzählungen ist der Handlungsort. "Grundproblematik
[dieser Erzählungen] bilden Lebensschicksale der "kleinen Leute" vor
dem Hintergrund einer bedrückenden und stickigen Großstadtatmosphäre."
(Quelle: "Geschichte der russischen Literatur", Aufbau-Verlag, 1986,
S. 422) Nicht umsonst übten diese Erzählungen großen Einfluß auf das
Frühwerk
Dostojewskis
(etwa "Arme Leute", de
ssen Protagonist sich direkt auf Gogols Novelle: "Der Mantel" bezieht)
aus. So soll er (oder Turgenjew) geäußert haben: "Wir alle kommen vom
Mantel her" - er bezieht sich auf das eben angesprochene reiftste Werk
Gogols, die Novelle "Der Mantel", die hier als letztes Werk abgedruckt
ist. "Der Mantel gilt zu Recht als das programmatische Werk des klassischen
russischen Humanismus. Gogol entreißt den gewöhnlichen Alltagsmenschen, den
"kleinen Mann", dem Dunkel der Vergessenheit und stellt das
erniedrigte und rechtlose Individuum in den Mittelpunkt der literarischen
Gestaltung. Die Geschichte vom gestohlenen Mantel verwandelt sich bei Gogol in
eine ergreifende Geschichte vom gestohlenen Menschenleben in der zaristischen
Gesellschaft. Das Schicksal des armseligen, unbedeutenden Beamten Akakij
Akakijewitsch Batschmatschkin, der völlig in seiner Arbeit aufgeht, von allen
aber verhöhnt und gedemütigt wird, wurde zu einer scharfen Anklage gegen das
aristokratisch-bürokratische System." (Quelle: "Geschichte der
russischen Literatur", Aufbau-Verl., 1986, S. 425). Zwar ist
Wolfgang Kasack ausdrücklich
zuzustimmen, dass die aus der Sowjetära - wie aus dem obigen Zitat beispielhaft
hervorgeht - Reduktion Gogols auf den Realismus der Komplexität des Werkes
nicht gerecht wird (Wolfgang Kasack: "Russische Autoren in
Einzelportraits", Reclam-Verlag, 1994, S. 136). Es ist ja gerade die
Auflösung normaler Sinnbezüge, der Un-Sinn der Novellen (Nachwort), wie etwa
der hier ebenfalls abgedruckten "Nase", die das grotesk-satirische um
Schaffen Gogols eindrucksvoll dokumentieren. Dennoch ist es gerade diese
Vielfalt, die Tatsache, dass es keine "eindeutige" Interpretation
seines Werkes gibt, die Gogol auch heute noch interessant und lesenswert machen.