Wenn sich in Indonesien die Erde leicht bewegt oder sich das Meer anders
verhält als üblich, deuten viele die Veränderungen in der Natur als
Vorzeichen für eine drohende Katastrophe. Nachdem General Sukarnos Soldaten
Adams Adoptiv-Vater Karl verhaftet hatten, fielen Adam die schlechten Zeichen
ein, die er im vorigen Jahr noch nicht richtig gedeutet hatte: die Insel Nusa
Perdo, auf der Adam lebt, war von außergewöhnlicher Trockenheit und einer
Rattenplage heimgesucht worden. Adam war 10 Jahren von Karl, einem
niederländischen Künstler, aus dem Waisenhaus adoptiert worden. An seine
frühe Kindheit erinnert Adam sich kaum; er weiß nur, dass er einen Bruder
haben muss. Bei Karl, der sich als indonesischer Staatsangehöriger stets sicher
gefühlt hat, verbringt Adam auch ohne materielle Reichtümer eine idyllische
Kindheit. In Adams Leben reihen sich abenteuerliche Geschichten von
Schiffswracks an Schwimmen und Fischen am Riff und an einfache Mahlzeiten, die
Karl zubereitet.
Karl hatte sich vergeblich auf seine Indonesische Staatsangehörigkeit verlassen
und muss nun befürchten, gegen seinen Willen in die Niederlande abgeschoben zu
werden. Für den 16jährigen Adam, der plötzlich sich selbst überlassen ist,
bietet Karls Verhaftung den Anlass, sich endlich auf Suche nach seiner Mutter zu
machen. Auf den Inseln ist es normal, dass Kinder keinen Vater oder keine Mutter
haben. Adam möchte wenigstens eine Vergangenheit haben. Er will wissen, welches
Elternteil nicht mehr lebt - sein Vater, seine Mutter oder sogar beide. Adam
hat bemerkt, dass er allmählich die Erinnerung an seinen Bruder verliert, er
will verhindern, dass die Vergangenheit ihm völlig entgleitet. Adam reist von
Insel zu Insel, durchquert Java und erinnert sich an die Zeit, als er als
kleiner Junge völlig verängstigt zu Karl gekommen ist. Es sind sehr
stimmungsvolle Erinnerungen an kühle Morgen am Meer. Johan, Adams älterer
Bruder, wurde damals von einer einheimischen Familie adoptiert, die mit ihm und
den jüngeren Geschwistern nie darüber sprach, dass Johan noch einen Bruder
hat. Obwohl Johan noch vor den jüngeren Halbgeschwistern der Familie Liebling
seiner Mutter ist, bedrücken ihn dunkle Schuldgefühle. Auch Johan will nun
endlich etwas über seinen leiblichen Bruder erfahren.
Margaret Bates, die seit 20 Jahren in Djakarta lebt und arbeitet, erkennt auf
einem Zeitungsfoto schemenhaft einen weißen Häftling. Margaret befürchtet,
dass es sich um Karl handelt, den sie als junges Mädchen gekannt und geliebt
hat. Sie sucht Hilfe bei einem befreundeten Journalisten und lässt Kontakte zur
amerikanischen Botschaft wieder aufleben. Bill, ihr Ansprechpartner in der
Botschaft, stellt klar, dass von ihm in der Sache Karl keine Leistung ohne
Gegenleistung zu erwarten ist. Auch Adam sucht inzwischen Hilfe bei der Suche
nach Karl und gerät dabei an Margarets engsten einheimischen Mitarbeiter Din.
Din ist Mitglied einer gewaltbereiten sozialistischen Widerstandgruppe und
auffällig interessiert am Schicksal des einfachen Jungen von der Insel.
Fazit
Die Spurensuche zweier Jugendlicher, die als kleine Jungen voneinander getrennt
wurden, verknüpft Tash Aw in "Atlas der unsichtbaren Welt" zu einer
bewegenden, spannenden Geschichte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des
gescheiterten kommunistischen Aufstands in Indonesien von 1965. Aw beschreibt
mit großer Glaubwürdigkeit die Empfindungen der Brüder, die sich selbst auf
die Suche nach ihrer Herkunft machen. Der Autor nutzt die Figur der
Indonesien-erfahrenen amerikanischen Wissenschaftlerin Margaret als Verbindung
zwischen persönlicher Geschichte und Zeitgeschichte und bringt so seinen Lesern
geschickt die Mentalität der Einwohner der ehemaligen niederländischen Kolonie
nahe.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 31. August 2009 2009-08-31 09:45:19