Untertitel: Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten
können.
Sie kennen sicher die bei Schulfesten beliebten Schätzaufgaben. "Wie viele
Bohnen/Gummibärchen/Büroklammern enthält dieses Glas?" wird gefragt.
Wer der tatsächlichen Zahl am nächsten kommt, kann einen Preis gewinnen. In
seinem 2007 erschienen Buch
Warum Gruppen klüger sind als
Einzelne erläutert James Surowiecki, dass der Mittelwert, der aus den
Schätzungen aller Teilnehmer gebildet wird, der ausgezählten Anzahl je näher
kommt, je mehr Personen sich an der Schätzung beteiligen. Surowieckis Beispiel,
bei dem das Gewicht eines Rindes von einer Gruppe von Teilnehmern bis auf 1kg
genau geschätzt wurde, führt Michael Maier u. a. als Beleg für die
Überlegenheit der so genannten Schwarmintelligenz an. Der österreichische
Journalist verspricht sich insbesondere von der Teilhabe vieler Internetnutzer
- und anderer als bisher - eine Lösung aktueller Probleme, zu der die
"alten Eliten" sich nach seiner Einschätzung als unfähig erwiesen
hätten. Die kollektive soziale Intelligenz würde zukünftig weltumspannende
Probleme schnell und kreativ lösen, hofft Maier, vorausgesetzt, das
Zusammenwirken im Internet werde zukünftig durch Ehrlichkeit, Authentizität
und Transparenz geprägt sein.
Als kollektive Intelligenz wird zum Beispiel ein Ameisenstaat bezeichnet, eine
Gemeinschaft, die durch Zusammenarbeit und Arbeitsteilung spezialisierter
Mitglieder bessere Überlebenschancen hat als ihre Einzelmitglieder. Während
Naturwissenschaftler das geordnete Zusammenspiel des Ameisenstaates als
intelligentes Verhaltensmuster definieren, sehen einige Systemtheoretiker das
Internet als vergleichbaren Superorganismus an und sprechen ihm durch diese
Definition mehr als nur künstliche Intelligenz zu. Soziologen betrachten eine
Konsensfindung in Gruppen als kollektive Intelligenz; nicht jedoch das Internet
selbst, das diesen Gruppen als Instrument zur Beschaffung von Informationen
dient. Aus Untersuchungen über Bewegungsmuster von Menschengruppen im
öffentlichen Raum leitet Maier die Erkenntnis ab, dass Menschen ohne
Reglementierung durch Vorschriften oder Hinweisschilder am besten allein
zurechtkommen (S. 23). Wer je gegen die Masse hereindrängender Einsteiger
versuchte, rechtzeitig einen U-Bahn-Wagen zu verlassen, wird sich fragen, ob
Menschenmassen ohne Regeln von sich aus tatsächlich ökonomisch und vernünftig
handeln.
Während Surowiecki auf diese Problematik kollektiver Intelligenz bereits in
seinem Buch hinweist, beurteilt Maier die Möglichkeiten des zukünftig durch
kollektive soziale Intelligenz gesteuerten Worldwide Web generell optimistisch.
Der österreichische Journalist verlässt sich darauf, dass sich negative
Auswüchse durch die Teilhabe Vieler von selbst regeln werden (S. 76). Er sieht
die Welt der Blogger als Regulativ einer saturierten Gesellschaft, als einen
zentralen Ort, um politische Aktionen vorzubereiten, um zum Beispiel Petitionen
zu verfassen. Im Gegensatz zu vielen Internet-Nutzern, die sich von
belanglosen, schlecht recherchierten Texten oder diskriminierenden Videos
belästigt fühlen, hält Maier das Internet im Vergleich zu anderen Systemen
grundsätzlich für überlegen. Die Gefahr der Verbreitung und Vervielfältigung
falscher Informationen sieht er dagegen als vernachlässigbar gering an. Wie
ein gelegentlicher Internet-Nutzer beispielsweise manipulierte
Kunden-Bewertungen von Waren oder Dienstleistungen in Bewertungsportalen von
ehrlichen Urteilen unterscheiden soll, bleibt in Maiers Ausführungen unklar.
Das System Wikipedia und die Welt weiterer kleiner Wikis beurteilt Maier
durchweg positiv. Dass Internet-Communities sich bereits zum Tummelplatz
geltungsbedürftiger Selbstdarsteller entwickelt haben und sich zukünftig zu
einer kaum zu überblickenden Halde entbehrlicher Informationen entwickeln
könnten, übersieht der Autor. Maiers Vorstellung, dass gerade die Teilnehmer,
die die Menschheit retten wollen, (im Gegensatz zu Terroristen, die sie
zerstören wollen) qualifiziert seien, das Superhirn Internet weiterzuentwickeln
(S. 187), lässt Schlimmes befürchten. Denn schon jetzt verhalten sich
Mitteilungsdrang und Sendungsbewusstsein einiger Nutzer des weltweiten Netzes
umgekehrt proportional zu ihrer Kompetenz und zu ihrem Sinn für Realität. Das
Finden von Antworten auf Fragestellungen lässt sich mit Hilfe moderner
Kommunikationsmethoden problemlos bewerkstelligen, doch erst mit der
erfolgreichen Überwindung der Koordinierungs- und Kooperationsprobleme einer
Gruppe von Menschen mit Eigeninteressen kann ein System seine Überlegenheit
beweisen. Blockwart-erfahrene Kulturen werden Maiers Hoffnung, dass im Internet
die Weisheit der Vielen kriminelle und terroristische Auswüchse verhindern
wird, für ausgesprochen weltfremd halten. Hier schiebt der Autor politische und
gesellschaftliche Verantwortung leichtfertig auf ein Informations-System ab.
Der 1958 geborene Maier kritisiert mehrfach in herablassendem Ton "alte
Eliten", die "Wahrer alter Werte", die in der Welt elektronischer
Kommunikation nicht mitspielen wollen und deshalb zukünftig aus unserer Welt zu
verschwinden hätten. Welche Qualifikationen die von Maier erhofften neuen
Eliten außer ihren Internet-Kompetenzen mitbringen werden und worin genau sie
"alten Eliten" überlegen sind, erfahren wir als Leser nicht. Seine
rechthaberisch wirkende Argumentation lässt vermuten, dass der Autor mit
Mitgliedern der ehemaligen Eliten noch ein persönliches Hühnchen zu rupfen
hat.
Der derzeit ungehinderte Zugang zu Gewaltdarstellungen und Pornografie für
Jugendliche im Internet stellt für Maier offenbar kein Problem dar (S. 209);
auch hier verweist er auf die Selbstregelungskräfte kollektiver sozialer
Intelligenz. Medienerziehung für Kinder und Jugendliche, sowie die Entwicklung
ihrer Urteilsfähigkeit als zukünftige Internet-Nutzer stehen nicht auf Maiers
Agenda, obwohl das kollektive Unwissen, das sich in Beiträgen in
Internet-Foren deutlich zeigt, nicht nur Eltern und Erziehern Sorgen bereiten
sollte. Welchen Einfluss das Internet tatsächlich auf unser kollektives Denken
haben wird, ist mir nach Lektüre des Buches noch immer unklar. Kann ein System
künstlicher Intelligenz intelligenter sein als seine Nutzer? Maier setzt in
seiner Argumentation Wissen mit Intelligenz und Kommunikation mit
Problemlösungen gleich. Twittern kann uns zwar in kürzester Zeit über
Naturkatastrophen informieren. Entschlossenes verantwortliches Handeln der
Betroffenen im wirklichen Leben setzt dagegen Wissen und regelmäßiges Training
der Notfallmaßnahmen voraus. Wer reale Probleme lösen möchte, darf neben den
Kommunikationswegen die Menschen nicht übersehen, die sie nutzen sollen.
Außergewöhnlich interessant und erheblich realistischer als Maiers
Superhirn-Theorie liest sich sein Exkurs in die Gründe für die ausgeprägte
Technikfeindlichkeit in Deutschland unter dem Einfluss der 68er-Generation, die
im Protest gegen die Volkszählung gipfelte.
Maier reißt mit "Die ersten Tage der Zukunft" unterschiedliche
Aspekte unserer vom weltweiten Netz geprägten Zukunft an. Mit Konzentration auf
die logisch-mathematische Ebene entwickelt er das Szenario eines Superhirns
Internet, das die kollektive Intelligenz der Weltgemeinschaft vereinen wird.
Michael Maiers Darstellung der Menschen als statistische Masse - wenn auch als
vernünftige Masse - konnte mich nicht überzeugen. Ob neue Eliten die Welt
retten können und ob sich überlegenere Lösungen tatsächlich durchsetzen
werden, obwohl "der Klügere" doch stets nachgeben sollte, untersucht
Michael Maier nicht. Eine kritische Wertung des Ist-Zustands vermeidet der
Autor, obwohl er mit seinem harten Urteil über abzulösende "alte
Eliten" sehr wohl zu polarisieren versteht.