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Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung - Eine Autopsie

Das Mich der Wahrnehmung - Eine Autopsie

von Lambert Wiesing
Verlag: Suhrkamp Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-518-58523-8

Preis: 8,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
"Alles was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin notwendig, und es ist unmöglich, daß ich etwas anders sei. (...) Ich mache mich selbst: Mein Sein durch mein Denken; mein Denken schlechthin durch das Denken." Dies sind die klassischen Überzeugungen des jungen Johann Gottlieb Fichte in der Nachfolge der Philosophie Immanuel Kants, welche Fichte in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen" (1800) niederlegt. Demnach nimmt der Mensch in aller Wahrnehmung lediglich seinen eigenen Zustand wahr. Alles Wissen sei Abbildung. Fichte erhob einst diesen Anspruch auf die Wahrheit seines Denkens in dem Wissen, er erhebe sich mit dieser Überzeugung selbst, sei ein neues Geschöpf, und sein ganzes Verhältnis zur vorhandenen Welt sei verwandelt. Auch werde er überhaupt nicht für sich sterben, sondern nur für andere - für die Zurückbleibenden, aus deren Verbindung er gerissen werde. Für sich selbst sei die Todes-Stunde eine Stunde der Geburt zu einem neuen herrlichern Leben.

Schon Immanuel Kant ging vorher wie Fichte tendenziell von der Einheit von Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein aus, als er eine Unterscheidung von transzendentaler und empirischer Apperzeption für nötig erachtete - quasi Selbstbewußtsein-in-Gegenstandsbewußtsein. Gegenüber dieser idealistischen Philosophie der deutschen Philosophen kann man wohl die vorliegenden Gedanken von Lambert Wiesing als radikale Ketzerei bezeichnen!

Ohne Zweifel, für viele Menschen ist es ein Rätsel, wieso es eine Welt gibt und warum diese so aussieht, wie sie aussieht, und wer weiß schon so richtig, wie es sich anfühlt, Mensch zu sein? Der Autor leitet nun überzeugend, her, daß, wer wahrnimmt, auch wisse, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage sei das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Gerade wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen - hiermit meint Wiesing wohl die Wahrnehmungstheorien auch Fichtes oder Kants -, müsse die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Mit "Erfahrung des Wahrnehmens" selbst stellt der Autor hier die neue Frage nach dem Zugang des Menschen zur Welt! - Die Antwort: Er hat keinen Zugang sondern lebt als Teil in der Welt.

Konnte Fichte noch behaupten: "Ist das Ich gesetzt, weil es gesetzt ist, so ist alles, was im Ich gesetzt ist, gesetzt, weil es gesetzt ist.", so beschreibt Wiesing Wahrnehmung aus einem anderen Blickwinkel als dem gewohnten des "Ich". Bisher werde Wahrnehmung als Produkt des Wahrnehmenden, eben als Produkt des "Ich" oder des "Subjektes" wie bei Fichte gesehen, als Konzept des aktiven Subjekts. Wahrnehmung sei hiernach Endprodukt von Interpretationsleistungen. Lambert aber erlaubt es nicht länger, das "Ich" der Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken und Wahrnehmung als Produkt des Subjekts zu denken. - Und hier liegt gleichsam die Wende, welche das Buch einfordert!

Der Autor verlangt vielmehr, die Abhängigkeiten umzukehren und die Folgen der Wirklichkeit der Wahrnehmung für das Subjekt zu beschreiben. Nicht das "Ich", das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein läßt. Dieses "Mich" der Wahrnehmung gelte es zu beschreiben: Zu welchem Dasein, zu welcher Art der Weltpartizipation zwingt mich meine Wahrnehmung? Und inwiefern erlaubt etwa die Bildwahrnehmung eine Pause von dieser Partizipation? Das sind Grundfragen eines philosophischen Entwurfs über den Menschen, dem es über das Thema der Wahrnehmung hinaus um die Möglichkeit des phänomenologischen Philosophierens geht: um die Möglichkeit einer Philosophie ohne Modell. Damit liefert der Autor zwar eine sehr interessante Perspektive, entkoppelt aber die Wahrnehmungstheorie radikal von den klassischen Vorbildern. Dies sollte man sich vor Augen halten.

Sein Weg: Die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn der Wahrnehmende abhängig ist und man die Wahrnehmung selbst in Ruhe lasse. Es wird also nicht das "Ich" thematisiert, welches Wahrnehmung hervorbringt, sondern die Wahrnehmung welche "mich" hervorbringt. Kurz: Weil es meine Wahrnehmung gibt, gibt es mich in der Welt als reales Subjekt in der Welt. Der Autor verfolgt damit erfolgreich wie im Titel angekündigt das Prinzip der Autopsie: Selbst sehen, um zu sehen, wie man selbst ist.

In der Mitte des Buches kommt er zum Knackpunkt: Zur Umdrehung der Wahrnehmungsphilosophie: Nicht nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung wird gefragt, sondern nach den Folgen der Wirklichkeit von Wahrnehmung für das Subjekt. Es gibt sonach die Wahrnehmung, weil es einen wirklichen materiellen Gegenstand gibt, der die Wahrnehmung von diesem so sein läßt, wie sie ist. Wenn die Wahrnehmung also mich hervorbringt, so bleibt die Frage nach der Wurzel dieser Wahrnehmung, die ja wieder nur im "Ich" liegen kann. Hier wird seine Theorie etwas wässrig. Der Autor weiter: Man sehe eine rote Tomate, weil sie rot ist und es sie gibt, auch dann, wenn man sie nicht sieht. - Das Sein erscheint hier als phänomenale Qualität der Wahrnehmung und als Folge des Wahrgenommenen. Es gibt die Wahrnehmung, weil es ein wahrnehmendes Subjekt gibt, welches die Wahrnehmung vom Gegenstand so sein läßt wie sie ist. In Abwandlung des cartesianischen Diktums würde dies heißen: Nicht: "Ich denke also bin ich." Sondern: "Ich denke, also gibt es mich."

Interessant sind die Stellen zur Frage nach der von Otto Weininger schon in seinem Letztwerk "Über die letzten Dinge" (1907) thematisierten absoluten Phänomenalität. Der Philosoph Weininger schrieb darüber: "Die objektive Seite der Furcht vor sich selbst kommt in der Unheimlichkeit der These des absoluten Phänomenalismus zum Vorschein, welche lehrt, daß nur die Empfindung Realität habe, und ich der fortdauernden Existenz einer Wand, die ich eben betrachtet habe, nicht mehr versichert bin, wenn ich ihr den Rücken zukehre." Die Existenz der Welt des Objektes, reduziert auf das transzendentale Wahrnehmungsvermögen im Kopf scheint auf das sichtbare Objekt eingeschränkt und das vorher sichtbare Objekt ist nicht mehr da, sobald wir unsere Wahrnehmung, das Auge, das Ohr, von diesem Objekt abwenden. Es verwundert nicht, daß Weininger angesichts dieser Urerfahrung des Phänomenalismus in seiner Jugend deshalb oft fragte, was denn nun existent ist und was nicht, ob er überhaupt da sei oder ob alles nur Traum sei.

Lambert Wiesing jedoch versucht, diesen tragischen Fragen der Philosophie, wie eigentlich besser unbeantwortet bleiben sollten, weil sie niemals wirklich zufrieden stellend beantwortet werden können, eine artifizielle Gewißheit entgegenzustellen. Sie ist seinem Ansatz gemäß korrekt, kann aber auch stark bezweifelt werden. Für Wiesing ist in der Wahrnehmung eine Sache für den Wahrnehmenden gegenwärtig. Das Ende der Wahrnehmung dieses Gegenstandes ist für den Wahrnehmenden auch nicht das Ende der Existenz des Gegenstandes. Dies klingt im Buch sehr sicher, sollte aber skeptisch gesehen werden. Vernichtet die Abwesenheit des Wahrnehmenden den Gegenstand der Wahrnehmung wirklich nicht? - Dies kann nur geahnt werden, nicht aber behauptet, denn überprüfbar ist es nicht und niemals, denn das principium individuationis, das niemals überwindbare Angewiesensein auf den eigenen Wahrnehmungsnapparat, aus dem man nicht aussteigen kann, um die Welt von "außen" zu sehen, kann nicht negiert werden. Man kann also durchaus auch behaupten, daß wenn meine Wahrnehmung sich von der roten Tomate abwendet, es diese auch physisch nicht mehr gibt.
Fazit
Das Buch ist sehr interessant zu lesen, läßt aber an entscheidenden Stellen eine konstruierte Gewißheit überhand gewinnen, die dem ewigen Fragen des Philosophen abträglich ist, da er sich mit den statischen Antworten des Autors nicht zufrieden geben kann. Diese stimmen nur in seinem Konzept, aber liefern kein absolutes Ergebnis, sondern behaupten gutmenschlich: Mich müsse es in einer unabhängigen Welt geben, weil mir die Wahrnehmung eine solche ermöglicht. - Oder: Ich sehe, also bin ich sichtbarer Teil in der Welt. Und ohne Mich? Daß dann die Welt trotzdem noch weiter sei, wie es wohl Wiesing behaupten würde, kann man nicht abschließend, ohne Spekulation oder ein Abgleiten in einen dogmatischen Metaphysizismus sagen! Es ist das Schicksal eines jeden Wahrnehmenden: Er muß in einer Wirklichkeit dabei sein. Die Überzeugung, daß diese aber unzweifelbar da sei, auch wenn der Mensch nicht da sei, ist dazu geeignet, dem fragenden Philosophen durch eine abgeschlossene Antwort die Energie zum weiteren Reflektieren zu nehmen. Fichte hätte wohl gemeint, daß es ohne ihn, im Falle seines Todes auch die Welt nicht mehr gebe.
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 05. Juni 2009

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