"Alles was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin
notwendig, und es ist unmöglich, daß ich etwas anders sei. (...) Ich mache
mich selbst: Mein Sein durch mein Denken; mein Denken schlechthin durch das
Denken." Dies sind die klassischen Überzeugungen des jungen Johann
Gottlieb Fichte in der Nachfolge der Philosophie Immanuel Kants, welche Fichte
in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen" (1800) niederlegt.
Demnach nimmt der Mensch in aller Wahrnehmung lediglich seinen eigenen Zustand
wahr. Alles Wissen sei Abbildung. Fichte erhob einst diesen Anspruch auf die
Wahrheit seines Denkens in dem Wissen, er erhebe sich mit dieser Überzeugung
selbst, sei ein neues Geschöpf, und sein ganzes Verhältnis zur vorhandenen
Welt sei verwandelt. Auch werde er überhaupt nicht für sich sterben, sondern
nur für andere - für die Zurückbleibenden, aus deren Verbindung er gerissen
werde. Für sich selbst sei die Todes-Stunde eine Stunde der Geburt zu einem
neuen herrlichern Leben.
Schon Immanuel Kant ging vorher wie Fichte tendenziell von der Einheit von
Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein aus, als er eine Unterscheidung von
transzendentaler und empirischer Apperzeption für nötig erachtete - quasi
Selbstbewußtsein-in-Gegenstandsbewußtsein. Gegenüber dieser idealistischen
Philosophie der deutschen Philosophen kann man wohl die vorliegenden Gedanken
von Lambert Wiesing als radikale Ketzerei bezeichnen!
Ohne Zweifel, für viele Menschen ist es ein Rätsel, wieso es eine Welt gibt
und warum diese so aussieht, wie sie aussieht, und wer weiß schon so richtig,
wie es sich anfühlt, Mensch zu sein? Der Autor leitet nun überzeugend, her,
daß, wer wahrnimmt, auch wisse, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses
besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage sei das Thema einer
Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf
jede Modellbildung zu verzichten. Gerade wenn sich die traditionellen Modelle
der Wahrnehmung als Mythen erweisen - hiermit meint Wiesing wohl die
Wahrnehmungstheorien auch Fichtes oder Kants -, müsse die Erfahrung des
Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Mit "Erfahrung des Wahrnehmens"
selbst stellt der Autor hier die neue Frage nach dem Zugang des Menschen zur
Welt! - Die Antwort: Er hat keinen Zugang sondern lebt als Teil in der Welt.
Konnte Fichte noch behaupten: "Ist das Ich gesetzt, weil es gesetzt ist, so
ist alles, was im Ich gesetzt ist, gesetzt, weil es gesetzt ist.", so
beschreibt Wiesing Wahrnehmung aus einem anderen Blickwinkel als dem gewohnten
des "Ich". Bisher werde Wahrnehmung als Produkt des Wahrnehmenden,
eben als Produkt des "Ich" oder des "Subjektes" wie bei
Fichte gesehen, als Konzept des aktiven Subjekts. Wahrnehmung sei hiernach
Endprodukt von Interpretationsleistungen. Lambert aber erlaubt es nicht länger,
das "Ich" der Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken und
Wahrnehmung als Produkt des Subjekts zu denken. - Und hier liegt gleichsam die
Wende, welche das Buch einfordert!
Der Autor verlangt vielmehr, die Abhängigkeiten umzukehren und die Folgen der
Wirklichkeit der Wahrnehmung für das Subjekt zu beschreiben. Nicht das
"Ich", das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern
die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein läßt. Dieses
"Mich" der Wahrnehmung gelte es zu beschreiben: Zu welchem Dasein, zu
welcher Art der Weltpartizipation zwingt mich meine Wahrnehmung? Und inwiefern
erlaubt etwa die Bildwahrnehmung eine Pause von dieser Partizipation? Das sind
Grundfragen eines philosophischen Entwurfs über den Menschen, dem es über das
Thema der Wahrnehmung hinaus um die Möglichkeit des phänomenologischen
Philosophierens geht: um die Möglichkeit einer Philosophie ohne Modell. Damit
liefert der Autor zwar eine sehr interessante Perspektive, entkoppelt aber die
Wahrnehmungstheorie radikal von den klassischen Vorbildern. Dies sollte man sich
vor Augen halten.
Sein Weg: Die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn der Wahrnehmende abhängig
ist und man die Wahrnehmung selbst in Ruhe lasse. Es wird also nicht das
"Ich" thematisiert, welches Wahrnehmung hervorbringt, sondern die
Wahrnehmung welche "mich" hervorbringt. Kurz: Weil es meine
Wahrnehmung gibt, gibt es mich in der Welt als reales Subjekt in der Welt. Der
Autor verfolgt damit erfolgreich wie im Titel angekündigt das Prinzip der
Autopsie: Selbst sehen, um zu sehen, wie man selbst ist.
In der Mitte des Buches kommt er zum Knackpunkt: Zur Umdrehung der
Wahrnehmungsphilosophie: Nicht nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit
von Wahrnehmung wird gefragt, sondern nach den Folgen der Wirklichkeit von
Wahrnehmung für das Subjekt. Es gibt sonach die Wahrnehmung, weil es einen
wirklichen materiellen Gegenstand gibt, der die Wahrnehmung von diesem so sein
läßt, wie sie ist. Wenn die Wahrnehmung also mich hervorbringt, so bleibt die
Frage nach der Wurzel dieser Wahrnehmung, die ja wieder nur im "Ich"
liegen kann. Hier wird seine Theorie etwas wässrig. Der Autor weiter: Man sehe
eine rote Tomate, weil sie rot ist und es sie gibt, auch dann, wenn man sie
nicht sieht. - Das Sein erscheint hier als phänomenale Qualität der
Wahrnehmung und als Folge des Wahrgenommenen. Es gibt die Wahrnehmung, weil es
ein wahrnehmendes Subjekt gibt, welches die Wahrnehmung vom Gegenstand so sein
läßt wie sie ist. In Abwandlung des cartesianischen Diktums würde dies
heißen: Nicht: "Ich denke also bin ich." Sondern: "Ich denke,
also gibt es mich."
Interessant sind die Stellen zur Frage nach der von Otto Weininger schon in
seinem Letztwerk "Über die letzten Dinge" (1907) thematisierten
absoluten Phänomenalität. Der Philosoph Weininger schrieb darüber: "Die
objektive Seite der Furcht vor sich selbst kommt in der Unheimlichkeit der These
des absoluten Phänomenalismus zum Vorschein, welche lehrt, daß nur die
Empfindung Realität habe, und ich der fortdauernden Existenz einer Wand, die
ich eben betrachtet habe, nicht mehr versichert bin, wenn ich ihr den Rücken
zukehre." Die Existenz der Welt des Objektes, reduziert auf das
transzendentale Wahrnehmungsvermögen im Kopf scheint auf das sichtbare Objekt
eingeschränkt und das vorher sichtbare Objekt ist nicht mehr da, sobald wir
unsere Wahrnehmung, das Auge, das Ohr, von diesem Objekt abwenden. Es verwundert
nicht, daß Weininger angesichts dieser Urerfahrung des Phänomenalismus in
seiner Jugend deshalb oft fragte, was denn nun existent ist und was nicht, ob er
überhaupt da sei oder ob alles nur Traum sei.
Lambert Wiesing jedoch versucht, diesen tragischen Fragen der Philosophie, wie
eigentlich besser unbeantwortet bleiben sollten, weil sie niemals wirklich
zufrieden stellend beantwortet werden können, eine artifizielle Gewißheit
entgegenzustellen. Sie ist seinem Ansatz gemäß korrekt, kann aber auch stark
bezweifelt werden. Für Wiesing ist in der Wahrnehmung eine Sache für den
Wahrnehmenden gegenwärtig. Das Ende der Wahrnehmung dieses Gegenstandes ist
für den Wahrnehmenden auch nicht das Ende der Existenz des Gegenstandes. Dies
klingt im Buch sehr sicher, sollte aber skeptisch gesehen werden. Vernichtet die
Abwesenheit des Wahrnehmenden den Gegenstand der Wahrnehmung wirklich nicht? -
Dies kann nur geahnt werden, nicht aber behauptet, denn überprüfbar ist es
nicht und niemals, denn das principium individuationis, das niemals
überwindbare Angewiesensein auf den eigenen Wahrnehmungsnapparat, aus dem man
nicht aussteigen kann, um die Welt von "außen" zu sehen, kann nicht
negiert werden. Man kann also durchaus auch behaupten, daß wenn meine
Wahrnehmung sich von der roten Tomate abwendet, es diese auch physisch nicht
mehr gibt.
Fazit
Das Buch ist sehr interessant zu lesen, läßt aber an entscheidenden Stellen
eine konstruierte Gewißheit überhand gewinnen, die dem ewigen Fragen des
Philosophen abträglich ist, da er sich mit den statischen Antworten des Autors
nicht zufrieden geben kann. Diese stimmen nur in seinem Konzept, aber liefern
kein absolutes Ergebnis, sondern behaupten gutmenschlich: Mich müsse es in
einer unabhängigen Welt geben, weil mir die Wahrnehmung eine solche
ermöglicht. - Oder: Ich sehe, also bin ich sichtbarer Teil in der Welt. Und
ohne Mich? Daß dann die Welt trotzdem noch weiter sei, wie es wohl Wiesing
behaupten würde, kann man nicht abschließend, ohne Spekulation oder ein
Abgleiten in einen dogmatischen Metaphysizismus sagen! Es ist das Schicksal
eines jeden Wahrnehmenden: Er muß in einer Wirklichkeit dabei sein. Die
Überzeugung, daß diese aber unzweifelbar da sei, auch wenn der Mensch nicht da
sei, ist dazu geeignet, dem fragenden Philosophen durch eine abgeschlossene
Antwort die Energie zum weiteren Reflektieren zu nehmen. Fichte hätte wohl
gemeint, daß es ohne ihn, im Falle seines Todes auch die Welt nicht mehr gebe.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 05. Juni 2009 2009-06-05 09:26:39