Die Politische Ideengeschichte ist das Archiv der Politikwissenschaft. Alte
Theorien werden mit neuen Ingredienzen angereichert. Sie bildet das Zentrum der
Wissenschaft und muss die Forschungskomponenten immer wieder zusammenfügen und
theoretisch-integrativ vereinen. Was ist eine gute Ordnung? Was sind die
Aufgaben des Gemeinwesens? Ist diese oder jene Vorstellung real verwirklicht?
Relevant ist stets das Spannungsfeld von Gewalt und Sittlichkeit - kratos und
ethos. Die politische Verzweiflung Machiavellis äußerte sich in der Abwehr der
Resignation durch trotzige Machtpolitik. Die vorliegende Schrift Paul Natorps
entstand in den Wirren der Nachkriegszeit in der Weimarer Republik und enthält
schwerwiegende Gedanken zu Staat und Nation.
Ruhige Zeiten werden also immer eine Präferenz für archivarische
Ideengeschichtsschreibung nahe legen, bewegte Zeiten wie diejenige Natorps
werden die Entscheidung für starke eigene Fragestellungen begünstigen. Als
Paul Natorp 1924 starb, war der Marburger Neukantianismus, dessen Hauptvertreter
er in der zweiten Hälfte des deutschen Kaiserreiches war, im Niedergang
begriffen. Der neukantianische Zugriff auf die Pädagogik und insbesondere die
neukantianische Fassung der Sozialpädagogik machten es nach Natorps Tod schwer,
seine Leistungen für die pädagogische Theoriebildung zu würdigen. Die
Jugendbewegung ehrte ihn mit einer Totenrede durch Karl Wilker (1885-1980) in
der Zeitschrift der freideutschen Jugend "Junge Menschen".
Natorp war der Vertreter eines spezifisch deutschen methodischen Idealismus. Die
zwei Erkenntnisstämme Immanuel Kants von Anschauung und Verstand wurden bei ihm
zu Materie und Form der Erkenntnis. Raum und Zeit sind Denkbestimmungen der
Relation und Größe. Das Gegebene wird zum Aufgegebenen, wonach zu fragen
sinnlos ist. Erkenntnisse sind nicht subjektiv, sondern in der gesetzlichen
Bestimmung der Erscheinungen zu objektivieren. Die synthetische Einheit ist
dabei das Grundgesetz des Erkennens, das durch die Grundfunktionen der
Kategorien (Qualität, Quantität, Relation und Modalität) bestimmt ist.
Das vorliegende Buch enthält die auf dieser Philosophie aufbauenden
Grundanschauungen Natorps zum deutschen Staat und zur Neugründung von Volks-
und Völkergemeinschaft mit Blick auf Deutschland und die Welt. Beide
Gemeinschaften bauen für Natorp aufeinander auf und wurzeln im Individualen.
Volk ist hier mehr als Einzelmensch, Menschheit mehr als Einzelvolk. Beiden
kommt eine maßgebliche Bedeutung zu.
Interessant ist der neoplatonische Zug in dieser Schrift, wonach Natorp
überzeugt ist, daß Volk kein Ding ist, das sterben kann, sondern eine Idee und
es gebe aber keinen Tod der Idee. Damit ist auch das Volk stets existent.
Zentral ist seine Charakterisierung des deutschen Geistes. Der Deutsche
verwirkliche nicht und glaube nicht abschließend an die Verwirklichung seiner
Idee, sei es die des Volkes oder eine ganz andere. Die Forderung an den
Deutschen ist also nicht die pragmatische Verwirklichung einer Idee, das
marxistische Paradies auf Erden ohne Dualismus von Kapital und Arbeit, sondern
die Forderung nach dem neuen Zustand ist metaphysisch und überendlich. - Die
Idee ist immer im Prozess der Verwirklichung, findet aber kein Ende. Darum sei
das deutsche Volk das tragischste der Erde, denn das deutsche Volk als dasjenige
der Idee sei getragen von einem Glauben, ein Glaube aller Wirklichkeit zum
Trotz. Er macht das Leben zum tragischen Erleben auf Zeit.
Das Gegebene wird zum Aufgegebenen und müsse akzeptiert werden. Dies führt
natürlich zu einer gewissen heroischen Haltung im Leben, deren Ursprung
geistige Tiefe und politische Nüchternheit ist. Die Widersprüche des Lebens
sind dazu da, so ließe sich mit Natorp weiter denken, daß man sie fest ins
Auge faßt und es mit ihnen aufnimmt, auch mit der Erkenntnis, sie niemals
abschließend bewältigen zu können. Leben ist Sorge, permanente Sorge und
niemals ein abschließend erreichbarer Heilszustand. Das macht das vorliegende
Werk so wichtig: Es gewährt Einblick in die politische Ideengeschichte einer
ereignisreichen Zeit und bietet Anknüpfungspunkte für die Gegenwart, in der
politische Ideengeschichte sich vielmals auf profane Demokratiegeschichte
reduziert und vorgibt, damit sei alles wichtige erreicht. - Ein folgenschwerer
Irrtum, wenn Politik ohne einen gewissen Heroismus im Sinne Natorps lediglich
als z.B. Parteienpolitik zu denken verordnet wird!
Fazit
Und so urteilt Natorp abschließend kämpferisch: "Unser Volk, und durch es
die Menschheit, kann nicht sterben; es lebt und wird leben, obgleich es
stürbe!" Damit tut er freilich nichts weiter als dem Konzept seiner
Ideenlehre zu folgen: Eine Idee stirbt nicht und wenn die Idee das Volk ist, so
stirbt sein Volk nicht!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 02. Juni 2009 2009-06-02 11:17:25