Ohne den Präventivschlag der Abriegelung Berlins 1961 mit dem Bau der Mauer
wäre die Instabilität der DDR auf Dauer fundiert und stärker als in den
folgenden Jahren gewesen. Die Existenzangst und die Befürchtung der
Infragestellung der DDR blieben im Handeln des Politbüros bestehen. So war die
internationale Lage durch ein erhebliches Anerkennungsdefizit seitens des
westlichen Auslands geprägt.
Das Ziel internationaler Gleichwertigkeit und ein Kampf gegen den Gedanken der
deutschen Einheit resultierten daraus und lassen den Bau der Mauer als
lebensnotwendigen existentiellen Entschluss erscheinen. Die
Legitimationsschwäche und Gefährdung der Selbständigkeit war überall
gegeben, was auch zu einer im marxistischen Sinne aufgeladenen aber künstlichen
Auffassung der eigenen Nation führen sollte, um den Unterschied des eigenen
Systems zum bundesdeutschen Referenzsystem zu fundieren.
Die Kontrolle der Bürger konnte nun, nach dem Bau der Mauer, vervollkommnet
werden. Eine freiwillige Anpassung an das System war notwendig geworden. Der
Lebensstandard besserte sich und die Konsolidierung der Lage konnte auf
zunächst sicherem Fundament über weitere Repressionen und
Unterdrückungswellen frei fortgesetzt werden. Doch die Konsolidierung nach
1961, in ihrer Voraussetzung erzwungen, war nur eine oberflächliche und
zeitlich determinierte. Wirtschaftliche Ineffektivität und Versorgungsmängel
sowie andauernde Menschenrechtsverletzungen prägten das Bild bis zum Ende der
DDR.
Der Fall der Mauer war von den DDR-Funktionären weder beabsichtigt noch
vorhergesehen worden. Aus unkoordinierten Einzelaktionen entwickelte sich unter
dem Druck der Massen eine Situation, die ihre eigene Dynamik bekam und
schließlich zu vollendeten Tatsachen führte. Den Verantwortlichen wurde erst
am nächsten Tag bewußt, was eigentlich geschehen war. Sie versuchten nun, die
Kontrolle über die Grenze zurückzugewinnen und trafen Vorbereitungen für eine
militärische Aktion - doch dafür war es schon zu spät. Wer aber hatte jene
"Reiseregelung" erarbeitet, und warum wurde sie von Schabowski
vorzeitig bekanntgegeben? Welche Rolle spielte die Staatssicherheit dabei? Was
wußten die sowjetischen Militärs davon?
Hans-Hermann Hertle hat sechs Jahre lang daran gearbeitet, die genauen Umstände
der Maueröffnung minutiös zu rekonstruieren. Er analysierte die entsprechenden
Unterlagen in den Archiven, sichtete die Veröffentlichungen der Medien und
befragte nahezu 100 Zeitzeugen, darunter die Entscheidungsträger jener
historischen Nacht.
Hertles Buch läßt nicht nur den 9. November in neuem Licht erscheinen, sondern
gibt zugleich einen Überblick über die Gesamtgeschichte der Berliner Mauer. Es
hat den Status eines Standardwerkes errungen, das darstellt, daß wenn das Leben
in Lüge die Grundstütze des Systems ist, es im Falle der DDR dazu führte,
daß das Leben in der Wahrheit eine Grundbedrohung für das System bedeutete,
die sich 1989 folgenreich zuspitzte und trotz aller härteren Verfolgung die
Erlösung mit sich brachte.
Fazit
Die vorliegende Chronik stellt die umgearbeitete und populäre Fassung der
wissenschaftlichen Studie dar. Sie liest sich spannend und informiert
zuverlässig. Sie ist deshalb ein bedeutendes Dokument, dem zu entnehmen ist,
daß das Maß der Instabilität von politischen Strukturen sich daran zeigt, wie
diese Strukturen sich im Falle der versuchten Veränderung verhalten. Ein
erfolgreiches Ergebnis der Veränderung ist die Wiedervereinigung Deutschlands,
und der am 1. Dezember 1989 von der Volkskammer mit überwältigender Mehrheit
gefasste Beschluss, die bisher in der Verfassung verankerte Führungsrolle der
SED zu streichen. Die weitere Geschichte ist bekannt. Sie zu verstehen, ist das
vorliegende Buch ein Muß!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 01. Juni 2009 2009-06-01 11:24:30